Overcompliance
Wer versucht in grossen Organisationen Bürokratie zu bekämpfen, der wird möglicherweise an der folgenden paradoxen Situation vorbeigekommen sein: während die Ausführungs-Ebene unter der Last der Prozesse und Vorschriften ächzt, ist sich die Führungsebene keiner Schuld bewusst, und kann sogar darauf verweisen, dass das offizielle Regelwerk sogar relativ schlank ist. Für diesen scheinbar widersinnigen Zustand gibt es einen häufigen Grund: Overcompliance.
Um das besser begreifen zu können schauen wir uns zunächst den zugrundeliegenden Begriff an: die Compliance. Hinter ihm verbirgt sich die anzustrebende Regelkonformität von Unternehmen, Behörden und sonstigen Organisationen, also die Einhaltung von Gesetzen, Richtlinien und internen Vorschriften. Compliance zu haben (bzw. Compliant zu sein) ist als Folge dessen das Ziel zahlreicher Prozesse, Tätigkeiten und Organisationseinheiten, die nur zu diesem einen Zweck existieren.
Das Problem bei der Herstellung von Compliance ist allerdings, dass es an ihren Rändern eine Grauzone gibt. Ab wann wird aus einer Routine ein zu dokumentierender Prozess? Gibt es Bagatellgrenzen für Zeit-, Qualitäts- und Budgetabweichungen? Wann können Anweisungen mündlich erfolgen, wann ist die Text-Form ausreichend und wann ist die Schriftform nötig? Alle diese Fragen sind in den Einzelfällen nicht immer eindeutig zu beantworten und lassen einen Interpretationsspielraum offen.
So lange dieses freie Interpretieren innerhalb der Grauzone keine negativen Folgen hat, ist das auch meistens unproblematisch, schwierig kann es aber werden, wenn das zu Unfällen, Qualitätsmängeln oder versehentlichen Regelverstössen führt. Viele Organisationen kehren in derartigen Situationen den Interpretationsspielraum um - alles woraus sich eine wie auch immer geartete Verantwortlichkeit ableiten lässt, wird rückwirkend zur Norm erklärt - oft mit disziplinarischen Folgen für die Betroffenen.
Und an dieser Stelle kommt es zur Overcompliance: um nicht ebenfalls oder erneut für etwas zur Verantwortung gezogen zu werden, was sich innerhalb einer Grauzone abspielt, beginnen die Mitarbeiter jetzt die jeweils strengste (und für sie sicherste) Auslegung der Gesetze, Richtlinien und internen Vorschriften anzuwenden. Im Zweifel also alles dokumentieren und schriftlich genehmigen zu lassen, und bereits kleinste Abweichungen zu verfolgen und zu eskalieren.
Bereits das kann lähmende Auswirkungen auf nahezu alle Abläufe haben, im schlimmsten Fall kann es aber sogar noch schlimmer werden - wenn es als Reaktion auf eine kontrollierende und überwachende Variante der Overcompliance dazu kommt, dass selbst für kleinste Aufwände explizite und schriftliche Anweisungen und Abnahmen nötig sind (gewissermassen Gegen-Overcompliance), ist es nicht mehr weit bis zu gegenseitigen Blockaden und bis zum totalen und dauerhaften Stillstand.
Um sich aus einer derartigen Situation zu befreien (oder um es gar nicht erst soweit kommen zu lassen) sind zwei Dinge notwändig: zum einen muss man akzeptieren, dass sich nicht alle Eventualitäten vorhersehen und mit vertretbarem Aufwand regulieren lassen, und zum anderen muss man darauf verzichten, nach in Grauzonen stattgefundenen Unfällen, Qualitätsmängeln oder versehentlichen Regelverstössen immer nach einem Schuldigen zu suchen und ihn bestrafen zu wollen.1
Was darüber hinaus ein sinnvolles Werkzeug für die Verhinderung von Overcompliance sein kann, ist eine Vereinbarung, bei allen Regel-Umsetzungen immer die am wenigsten restriktive Variante anzustreben und von anderen zu fordern. Idealerweise kann das sogar Teil eines "Gesellschaftsvertrages" werden, an dem sich die gemeinsame Zusammenarbeit ausrichtet und auf den man sich bei Prozessgestaltungen, in Konflikten und bei Meinungsverschiedenheiten berufen kann.