Dienstag, 25. Februar 2025

Der andere Kanban Guide

Bild: Flickr / Rosenfeld Media - CC BY 2.0

Einer der grossen Unterschiede zwischen den beiden populärsten agilen Frameworks, Scrum und Kanban, war immer, dass Scrum mit dem Scrum Guide ein verbindliches Regelwerk hatte, während Kanban trotz weit verbreiteter und allgemein anerkannter Praktiken eher "Open Source" war, so dass jeder hineindefinieren und -interpretieren konnte was er wollte. Diese Unklarheit hat immer wieder den Wunsch nach einem "Kanban Guide" aufkommen lassen.


Die erste Organisation die versucht hat diese Lücke zu füllen (bzw. den damit verbundenen Zertifizierungs-Markt zu erschliessen) war die Lean Kanban University, die 2016 den trotz seines Namens etwas aufgeblähten Essential Kanban Condensed Guide veröffentlichte, der dann 2021 durch den schlankeren "Official" Kanban Guide abgelöst wurde. Aufgrund seines Namens wird der immer wieder für das einzige und verbindliche Kanban-Regelwerk gehalten.


Da der Begriff und die Idee von Kanan nicht geschützt sind, gibt es aber auch Alternativen, unter denen die vielleicht bekannteste schlicht The Kanban Guide heisst. Selbst wenn seine Verfasser Daniel Vacanti und John Coleman mit ProKanban (einer anderen Zertifizierungs-Organisation) verbunden sind, ist das Dokument bewusst nicht mit deren Brand verbunden oder auf deren Website gehostet, um so seinen universellen Anspruch und seinen nicht-kommerziellen Charakter hervorzuheben.


Von seiner Struktur her organisiert er sich sehr stark am Scrum Guide, bis hin zu dem Punkt, dass mehrere seiner Abschnitte fast identisch benannt sind (Purpose of the Kanban Guide statt Purpose of the Scrum Guide, Definition of Kanban statt Scrum Definition, Kanban Theory statt Scrum Theory, etc.).1 Lediglich in seinem Mittelteil gibt es Abweichungen, gegen Ende entspricht der Aufbau mit End Note und Acknowledements wieder sehr stark dem des Scrum Guides.


Inhaltlich sind es auch vor allem diese mittleren Abschnitte, die Kanban Practices, das Improving the Workflow und die Kanban Measures die interessant sind.2 Den grössten Teil nehmen dabei die Practices ein, es handelt sich bei ihnen um Defining and Visualizing the Workflow, Actively Managing Items in a Workflow, Controlling Work In Progress und  Service Level Expectation.3 Nach Ansicht der beiden Autoren handelt es sich dabei um die unverzichtbaren Kernbereiche der Kanban-Methode.


Hinter Defining and Visualizing the Workflow verbirgt sich das explizit machen des eigenen Arbeitsflusses, wodurch erkennbar wird wer im Rahmen seines Ablaufs was macht, in welcher Reihenfolge, mit welchen Schnittstellen-, bzw. Übergabe-Kriterien und welchen Kontrollmechanismen. Genannt wird das Ganze Definition of Workflow (DoW) - auch hier erkennt man wieder eine Parallele zum Scrum Guide und seiner Definition of Done (DoD).


Mit Actively Managing Items in a Workflow sind im Kanban Guide die Tätigkeiten gemeint, die den reibungslosen Durchfluss von Arbeit durch das System sicherstellen oder wiederherstellen sollen. Im Einzelnen sind das Controlling Work in Progress (d.h. dessen Menge), Avoiding work items piling up in any part of the workflow, Ensuring work items do not age unnecessarily (mit Hilfe von Service Level Agreements) und Unblocking blocked work.


Mit Controlling Work in Progress und Ensuring work items do not age unnecessarily bekommen die erste und letzte der zuletzt genannten Tätigkeiten noch einen eigenen Abschnitt, in dem tiefergehend erläutert wird, was sich dahinter verbirgt, bzw. welche weiteren Konzepte damit verbunden sind. Hier finden sich u.a. auch das Pull-Prinzip und das probabilistische Forecasting, die damit im Vergleich zu anderen Kanban-Auslegungen eine eher wenig prominente Plazierung haben.


Im Vergleich dazu ist das Improving the Workflow relativ knapp beschrieben. Hervorgehoben wird vor allem, dass es überhaupt stattfinden sollte, dass es auf der Grundlage von Zahlen und/oder Erfahrungen erfolgen sollte und dass es Verbesserungen der Effizienz, Effektivität und Vorhersagbarkeit zum Ziel haben sollte. Bemerkenswert ist, dass explizit nicht nur kleine sondern auch grosse Verbesserungen möglich sind, also nicht nur Kaizen sondern auch Kaikaku.


Die Kanban Measures sind schliesslich wieder die grossen Klassiker: Work in Progress-Menge, Throughput, Work Item Age und Cycle Time (Lead Time dagegen bemerkenswerterweise nicht). Neben ihrer kurzen Erklärung wird noch unterstrichen, dass sie nur zum Zweck der Prozessverbesserung erhoben und kein Selbstzweck sein sollen, und dass es möglich ist, sie um weitere Metriken zu ergänzen, wenn man darin einen Mehrwert sieht.


Was der Kanban Guide nicht (bzw. nur als Nennung optionaler Möglichkeiten) enthält, sind Meetings und Rollen. Es wird zwar erwähnt, dass es möglich ist, Dailies und Retrospektiven (die hier nur Reviewing the Definition of Workflow from Time to tTime heissen) abzuhalten, von einer zu starken Formalisierung wird aber abgeraten. Im Fall der Rollen ist nicht mal das gegeben, sie werden an keiner Stelle des Kanban Guide auch nur erwähnt, geschweige denn vorgegeben.


Zur Bewertung, bzw. Einordnung: das auf den ersten Blick Auffälligste am Kanban Guide dürfte die starke Anlehnung seiner Struktur an die des Scrum Guide sein. Die mag ihre Vorteile haben, da jemand der bisher nur Scrum kennt sich leichter zurechtfinden wird, andererseits wirkt sie etwas gezwungen und z.T. sogar un-originell, etwa in den End Note, die in einigen Passagen eine Eins-zu Eins-Kopie ist. Auch die Definition of Workflow wirkt etwas gezwungen.


In Abgrenzung zum "Official" Kanban Guide der Kanban University ist erkennbar, dass die jeweiligen Verfasser jeweils unterschiedliche Elemente für wichtig oder verzichtbar gehalten haben. Während z.B. im "Official" Kanban Guide Aufbau und Nutzung eines Kanban-Boards einen grossen Platz einnehmen, fehlen sie in The Kanban Guide völlig. Das macht einmal mehr die Gestaltungsoffenheit von Kanban deutlich (die dann allerdings mit den Mindestvorgaben der Verfasser kollidiert).


Genau die Offenheit an dieser Stelle, durch die klar wird, dass Kanban zwar in Form eines Boards mit Kartenoder Kacheln dargestellt werden kann, aber keinerswegs dargestellt werden muss, ist übrigens eine, die grossen Teilen der Kanban-Community fehlt (Alternativen sind Ampelfarben, Kontroll-Charts, Kummulative Flussdiagramme, etc.). Alleine in dieser Hinsicht ist Vacantis und Colemans Guide eine wertvolle Ergänzung.


Auffällig ist ausserdem, dass ihr Regelwerk nochmal kürzer und komprimierter ist als die von Scrum und der Kaban University. Einschliesslich Inhaltsverzeichnis umfasst er nur neun Seiten. Aufgrunddessen kann man ihn auch ohne grossen Aufwand als Ergänzung zum nur unwesentlich längeren Guide der Kanban University benutzen, alleine um verschiedene Blickwinkel auf das Thema Kanban zu bekommen, dass sich mit einem Dokument alleine kaum abbilden lässt.



1Sogar die URL ist ähnlich: https://kanbanguides.org statt https://scrumguides.org
2Ähnlich wie im Scrum Guide ist der Theorieteil sehr kurz und besteht im Wesentlichen aus einer Aufzählung zugrundeliegender Methoden und Frameworks
3Es gibt zwar eine deutsche Übersetzung, da deren Wortwahl mitunter etwas sperrig ist bevorzuge ich das englische Original

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