Agile Sucess Stories: Die agile Revision
Bild: Pexels / Vlada Karpovich - Lizenz |
Leider ist es so, dass viele "agile Methodiker" (Agile Coaches, Scrum
Master, etc.) mit der Zeit eine eher negative Weltsicht entwickeln. Das
ist auch menschlich verständlich, wer sich ständig mit dem Beseitigen
von Impediments und dem Kampf gegen Change Fatigue und Konzern-Trolle
beschäftigen muss, kann leicht in Frustration abrutschen. Um nicht
selbst in dieses Muster verfallen, möchte ich dagegenhalten, indem ich
ab und zu selbst erlebte "agile Erfolgsgeschichten" veröffentliche.
Diese hier hat sich in einem grossen Unternehmen in einer gesetzlich regulierten Branche zugetragen. Die Einhaltung dieser Regulierungen wurde von einer eigenen Abteilung überprüft, der Revision, die von Zeit zu Zeit anderen Abteilungen einen Besuch abstattete, sich deren Abläufe und Ablaufdokumentationen zeigen liess, diese überprüfte und für regulierungskonform oder nicht regulierungskonform erklärte. Wenn das zweite der Fall war, mussten diese angepasst werden, danach wurden sie nochmals überprüft.
Bewusst oder unbewusst hatte sich in dieser Firma mit der Zeit ein eher dysfunktionaler Umgang mit der Revision etabliert: im Vorfeld wurde die Herausgabe von Informationen möglichst stark verzögert, während der eigentlichen Prüfung wurde die Revision dann dafür mit möglichst viel Material überflutet. In dem waren einige offensichtliche aber sehr geringfügige Fehler prominent plaziert, um schnell gefunden zu werden und die Revisoren von einer genaueren Überprüfung der anderen Bereiche abzulenken.
Als externem Berater/Agile Coach war ich in diese Feinheiten nicht eingeweiht worden, weshalb ich mir keine grossen Gedanken machte, als ich kontaktiert und nach einer Prozessdokumentation der agilen Software-Entwicklung gefragt wurde. Bereitwillig verwies ich auf den Scrum Guide und einige Intranet-Seiten, auf denen erklärt wurde, wie Scrum in der Entwicklungsabteilung umgesetzt wurde, die ich zu dieser Zeit begleitete. Noch am selben Tag brach dort Unruhe aus.
Schlafende Hunde hätte ich geweckt und die Revisoren "angefüttert", hiess es, jetzt hätten die mehr Zeit als sonst um sich zu informieren, sich vorzubereiten und noch genauer als sonst zu prüfen, und dadurch würden sie auch mehr finden können und für alle mehr Arbeit verursachen. Ein grosses Drama. Um alle zu beruhigen bot ich schliesslich an, die Vorbereitungs-Arbeiten der Revisions-Prüfung selbst zu übernehmen. Es waren noch etwa fünf Wochen bis zum Revisionstermin.
Eine wirkliche Idee was ich alles abzuliefern hätte hatte ich am Anfang noch nicht, dafür aber eine Idee wen ich fragen könnte - den Revisor, der mich nach Prozessdokumentation gefragt hatte. Und tatsächlich, von ihm bekam ich die "Richtlinien zur Inbetriebnahme, Modifizierung und Ausserbetriebnahme von Netzwerk- und Informationssystemen". Ein riesiges, unübersichtliches Dokument, voller Fachbegriffe und juristischer Formulierungen. Ich verstand bestenfalls die Hälfte.
Immerhin, er war bereit, es mir zu erklären, also stellte ich einen längeren Termin mit ihm ein, der erstaunlich konstruktiv und produktiv war. Hinter den meisten Formulierungen verbargen sich sehr einfache und nachvollziehbare Vorgaben, z.B. dass es ein Vorgehen zur Priorisierung von Anforderungen geben müsste, dass ein Vier-Augen-Prinzip gewährleistet sein müsste und dass neu entwickelte Funktionen eine Qualitätssicherung dürchlaufen müssten.
Umgekehrt konnte ich erklären, was es mit den verschiedenen Fachbegriffen aus Scrum auf sich hatte. Welche Meetings es gab, wer an ihnen teilnahm und dort welchen Beitrag leistete und welche zusätzlichen Praktiken in den Teams verwendet wurden, z.B. User Stories, Pair Programming und Code Reviews. Wir gingen auseinender mit einer Idee: bis zur nächsten Woche sollte ich eine Übersicht erstellen, welche Richtlinien durch welche Scrum-Regeln und Praktiken abgedeckt wurden.
Im nächsten Termin konnte ich bereits für die meisten Richtlinien etwas vorweisen: das Refinement für die Anforderungs-Priorisierungen, die Code Reviews für das Vier-Augen-Prinzip, die Akzeptanz- und Regressionstests für die Qualitätssicherung, etc. Natürlich war noch nicht alles abgedeckt, aber wir konnten jetzt sortieren - Themen bei denen es nichts mehr zu tun gab, Themen bei denen nur noch die Dokumentation genauer werden musste und offene Themen.
In den verbleibenden drei Wochen arbeiteten wir diese Liste durch: zwischen den jeweils wöchentlichen Terminen konnte ich die Prozessdokumentation vervollständigen und Vorschläge erarbeiten, welche noch offenen Richtlinien wie in Scrum umgesetzt werden könnten (z.B. wurden Security-Vorgaben in die Definition of Done aufgenommen), umgekehrt konnte der Revisor sich mit seinen Kollegen abstimmen, ob das auch nach deren Meinung ausreichend war.
Letzteres führte dann auch zu einem unerwarteten Effekt: einige der anderen Revisoren hatten vorher in anderen Firmen bereits agile Prozesse überprüft, und konnten berichten, wie Regularien dort erfüllt worden waren. Sobald uns das bewusst war, fragten wir auch bei weiteren noch unklaren Fällen nach Erfahrungswerten, und bekamen auch einige (z.B. dass die Nennung einer einzuhaltenden Richtlinie in den Akzeptanzkriterien einer User Story eine ausreichende Dokumentation war).
Der Revisionstermin war dann trotz allem lang und umständlich, schliesslich war es vorgegeben, dass mehrere Revisoren zusammen mit mehreren Mitgliedern der Entwicklungsabteilung den gesamten Prozess und seine Dokumentation im Detail durchgehen mussten. Anders als bei den letzten Terminen war das Meiste den Revisoren aber bereits bekannt - und als ein weiteres Ergebnis der Vorbereitung war die zu sichtende Dokumentation auf das Wesentliche reduziert, hatte also deutlich weniger Umfang.
Am Ende stand die geringste Menge an notwendigen Nacharbeiten, an die sich alle Beteiligten erinnern konnten, und gleichzeitig waren die Vertreter der Revisionsabteilung der Meinung, dass sie noch nie die Prozesse einer geprüften Abteilung so gut verstanden hätten. Auch in der Entwicklungsabteilung wurde anerkannt, dass die frühe und transparente Zusammenarbeit mit den Revisoren nicht die befürchteten negativen Folgen gehabt hatte, sondern sinnvoll gewesen war.