Der Imagewandel der agilen Bewegung
Es gibt diese Momente, in denen jemand bewusst oder unbewusst etwas Augenöffnendes sagt, das komplexe Sachverhalte, mit deren prägnanter Formulierung man sich bis dahin schwer getan hätte, auf einmal kurz und klar zusammenfasst. Ich habe diesen Moment früher in diesem Jahr im Rahmen eines Einsatzes bei einem Kunden gehabt, bei dem ein Mitarbeiter beschrieb, wie sich seine Wahrnehmung der Scrum Master über die Zeit geändert hatte. Seine Aussage war:
Back in the days, talking to Agilists was like talking to a bunch of tech-nerds. Today it's like talking to HR.
Ins Deutsche übersetzt: damals (der Mitarbeiter war schon seit deutlich über zehn Jahren im Unternehmen), fühlten sich Unterhaltungen mit den Agilisten wie Gespräche mit technikverliebten Spezialisten an. Heute ist es so, als würde man mit der Personalabteilung reden. In diesem Satz (der so in vielen Firmen fallen könnte) steckt unglaublich viel an Inhalt, da er aber ein bisschen Vorwissen benötigt, kommt hier etwas Kontext. Was wollte der Herr uns sagen?
Schauen wir uns zunächst den ersten Teil an, dass die Unterhaltungen mit Scrum Mastern früher denen mit Tech-Nerds entsprochen hätten. Die dahinterstehende implizite Aussage ist die, dass man bei hochspezialisierten (IT-)Technikern zwar niemals zur Gänze versteht, wovon sie eigentlich reden, dass daraus aber Ergebnisse entstehen, die immer wieder beeindruckend sind. Für die frühen Scrum Master und Agile Coaches (ca. zwischen 1995 und 2015) eine durchaus treffende Beschreibung.
Der zweite Teil, demzufolge sich die Gespäche heute wie solche mit HR anfühlen, ist weniger schmeichelhaft. In der breiten Wahrnehmung vieler Mitarbeiter hat die Arbeit der Personal-Einheiten zwar einen sinnvollen Kern, besteht aber darüber hinaus zu einem Grossteil aus dem Erzeugen von Regeln, Prozessen und Sprach-Vorgaben, deren Mehrwert nicht wirklich nachvollziehbar ist.1 Und man muss es leider sagen - die Wahrnehmung vieler agiler Methodenmenschen ist nicht weit davon weg. Autsch.
Wer schon etwas Zeit mit oder in der agilen Community verbracht hat wird entsprechende Aussagen kennen: "Das ist nicht DevOps", "So formuliert man User Stories nicht", "Steht im Daily bitte auf", "Darüber sprechen wir erst in der Retrospektive", "Diese Daten darf ausserhalb des Teams niemand sehen", etc. Ähnlich wie bei den meisten HR-Bemühungen stecken dahinter gute Ideen, wahrgenommen wird es aber meistens als Bevormundung und Gängelung.
Ganz unabhängig davon, ob diese Sicht gerechtfertigt oder berechtigt ist - sie ist real, und findet sich in vielen Unternehmen explizit oder implizit bei den Mitarbeitern wieder. Und wenn diese Sicht einmal Mehrheitsmeinung ist, dann kann man darauf wetten, dass früher oder später jemand die Frage stellen wird, warum man diese Rollen denn braucht, wenn alles was man von denen mitbekommt, die Erzeugung von Regeln, Prozessen und Sprach-Vorgaben mit zweifelhaftem Mehrwert ist.
Alleine um die eigene berufliche Existenz zu sichern, sollten sich Scrum Master und Agile Coaches daher regelmässig fragen, ob das was sie tun von aussen als besserwisserisch, bevormundend und bürokratisch wahrgenommen werden könnte.2 Und wenn das der Fall ist, dann ist damit ein Verbesserungspotential entdeckt, dessen Realisierung deutlich mehr bewirken kann als das dogmatische Bestehen auf bestimmten Prozessen und Begrifflichkeiten.
2Natürlich sollten sie das auch tun, um wirksam zu bleiben. Wie Ken Schwaber in Agile Project Management with Scrum sagte - A dead sheepdog is a useless sheepdog