Dienstag, 26. November 2024

Die agile Bewegung

Bild: Unsplash / Miguel A. Amutio - Lizenz

Wenn von der Gruppe aller Menschen die Rede ist, die in irgendeiner Form agil arbeiten (oder denen das zumindest zugeschrieben wird) fallen häufig Begriffe wie "die agile Bewegung" oder "die agile Community". Was damit genau gemeint ist bleibt in der Regel offen, was aber keineswegs bedeutet, dass diese Gruppe nicht beschreibbar wäre. Tatsächlich gibt es in der Wissenschaft sogar eine ganze Kategorie sozialer Zusammenschlüsse, die hier passend ist: die der sozialen Bewegungen.


Ein wichtiges Merkmal an dem soziale Bewegungen erkennbar sind, sind übergeordnete, gesellschafts-verändernde oder gesellschafts-stabilisierende Ziele. Das ist offensichtlich bei Bürgerrechts- oder Umweltbewegungen, kann aber auch in Berufskontexten stattfinden. Hier ist die agile Bewegung neben New Work sogar eine der Wichtigsten. Ihr aus dem agilen Manifest abgeleitetes grosses Ziel: die Schaffung einer besseren, humaneren, nachhaltigeren und effektiveren Arbeitswelt.


Was soziale Bewegungen ausserdem von anderen Gruppen unterscheidet, ist die nur schwer überprüfbare Zugehörigkeit. Weder wird man in sie hineingeboren (wie in Familien oder Stämme) noch gibt es klar formalisierte Zugehörigkeits-Kriterien und Aufnahmebedingungen (wie in Unternehmen oder Vereinen). Was es stattdessen gibt sind Selbst- oder Fremdzuordnungen, die sich auch widersprechen können. Man denke z.B. an die Debatten, oder SAFe und OKRs agile Frameworks sind oder nicht.


Eine Folge dieser nicht-formalen Zugehörigkeit ist das weitgehende Fehlen von Macht-Mitteln und Ressourcen-Kontrolle. Bis zu einem gewissen Grad ergeben die sich zwar indirekt aus charismatischer Führung, bzw. der sich daraus ergebenden Gefolgschaft, es gibt aber keine Budgets, keine Karrierepfade und keine bei Fehlverhalten drohenden Konsequenzen. Das ist auch ein Hauptgrund für den in sozialen Bewegungen verbreiteten Idealismus, der als Motivator an die Stelle materieller Anreize tritt.


Dieser unklare und von materiellen Zielen getrennte Status wird allerdings weiter verkompliziert durch das Phänomen, dass es mit der Zeit zu Formalisierungen von Teilen sozialer Bewegungen kommen kann, die dann parallel zu den unformalisierten Teilen bestehen. Eines der bekanntesten Beispiele dürfte die Entstehung der grünen Parteien aus der Umweltbewegung sein, formalisierte Teile der agilen Bewegung sind u.a. die Agile Alliance oder die Scrum Alliance.


Diese letzten Beispiele zeigen auch ein Problem auf, dass soziale Bewegungen bekommen können, wenn sich Teile von ihnen formalisieren. Ob nur zur Finanzierung der eigenen Strukturen oder aufgrund einer Gewinnerzielungsabsicht - mit Formalisierung geht praktisch immer der ein Geldbedarf einher, der alleine aus Selbsterhaltungstrieb doch als materielles Ziel neben die ursprünglichen, idealistischen Ziele tritt - was von den nicht-formalisierten Teilen der Bewegung z.T. vehement abgelehnt wird.


Verstärkt werden derartige Konflikte durch ein weiteres Phänomen, den so genannten Sog der Addition. Er tritt auf, wenn ähnliche soziale Bewegungen gemeinsame Teilziele verfolgen und sich dadurch teilweise überlagern. Sobald diese Überlagerung eine kritische Masse überschreitet, werden auch ursprünglich nicht geteilte Ziele übernommen, im Fall weiter Teile der agilen Bewegung z.B. das Streben nach Basisdemokratie oder die Ablehnung von Shareholder Value-Orientierung.


Nochmal von einer anderen Seite betrachtet können Soziale Bewegungen derartige interne Konflikte aber besser bewältigen und kompensieren als stärker formalisierte Gruppen, zum Einen weil sie eben aufgrund der fehlenden Formalität und Ressoucenverteilung in einem weitgehend konsequenzfreien Raum operieren, zum Anderen weil ihre übergreifenden idealistischen gesellschaftlichen Ziele eine Bindekraft haben können, die grösser ist als die Zentrifugalkräfte der verschiedenen internen Interessen.


All diese  Faktoren sorgen dafür, dass soziale Bewegungen im Allgemeinen und die agile Bewegung im Speziellen relativ schwer zu beschreiben und in Zusammenhänge einzuordnen sind, was nochmal dadurch verstärkt wird, dass die übergreifenden Ziele sich aufgrund einer fehlenden verbindlichen Regulierung mit der Zeit verändern können. Im Fall der agilen Community führt das zu einem fast schon versöhnlichen Schluss: ihr anzugehören bedeutet, sich regelmässig anzupassen.

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