Montag, 11. November 2024

Wie der Staat wieder handlungsfähig wird (II)

Bild: Strassen NRW

Ab und zu wird man von der staatlichen Verwaltung positiv überrascht, in diesem Fall vom Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen. Der ist u.a. verantwortlich für den Neubau einer Brücke, die ich in den letzten Jahren ab und zu benutzt habe, der Wupperbrücke Blombacher Bach in Wuppertal. Dieser Neubau wurde dieses Jahr in einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit von nur wenigen Wochen abgeschlossen, und das mit Massnahmen, die jetzt zum Standard in NRW werden sollen.


Die erste dieser Massnahmen ist ein frühes Beteiligungsverfahren, an denen sich alle betroffenen Gruppen (in diesem Fall Anwohner, Pendler, Unternehmen, etc.) beteiligen und ggf. ihre Bedenken einbringen können. Das mag auf den ersten Blick wie eine Verzögerung wirken, sorgt aber später im Prozess für Geschwindigkeit, da durch die Einbeziehung derartiger Stakeholder die Wahrscheinlichkeit von Fehlplanungen und Gerichtsprozessen geringer wird.


Über die zweite Massnahme habe ich bereits an anderer Stelle etwas geschrieben: es ist die Modulbauweise. Die einzelnen Bauelemente können an einer anderen Stelle im Voraus gefertigt werden und werden vor Ort nur noch zusammengesetzt und durch eine so genannte Ortbetonergänzung verbunden (was für ein schönes deutsches Wort). Neben der Geschwindigkeit ergibt sich dadurch ein zweiter Vorteil - beschädigte Brückenteile können später einfacher ersetzt werden.


Die dritte Massnahme ist vermutlich für die deutsche Bürokratie am revolutionärsten, es handelt sich um die so genannte funktionale Ausschreibung der Bauvorhaben. Bei derartigen Ausschreibungen wird kein detaillierter Leistungskatalog mehr vorgegeben, sondern es wird nur das zu erreichende Ziel definiert (z.B. Abriss und Neubau einer Brücke) ggf. verbunden mit in diesem Rahmen zu erreichenden Kennzahlen (z.B. der Traglast dieser Brücke).


Dieses Vorgehen hat gleich mehrere positive Effekte: der Umfang der zu erstellenden und zu bearbeitenden Ausschreibungs-Unterlagen wird geringer, den Bauträgern wird es möglich gemacht, neue und innovative Bautechniken einzusetzen, ohne die Bauämter davon überzeugen zu müssen, diese in die Pläne aufzunehmen, und durch die geringeren Aufwände in diesen Ämtern ist der dort spürbare Fachkräftemangel ein weniger starker Verlangsamungsfaktor für Planungs- und Genehmigungsprozesse.


Wie immer in solchen Fällen fragt man sich zwar, warum das nicht schon viel früher so gemacht worden ist, nach vorne blickend kann man sich aber darüber freuen, dass die Baustellen in Nordrhein-Westfalen zukünftig viel schneller wieder beendet sein werden als bisher. Vielleicht sollte auch die Bahn sich mal mit dem Landesbetrieb Straßenbau austauschen? Schaden würde es sicher nicht.

Donnerstag, 7. November 2024

A Field Guide to Reliability Engineering

Mir fällt gerade auf, dass ich noch nie etwas zum Thema Site Reliability Engineering (der Schaffung einfach skalierbarer und trotzdem hochzuverlässiger Softwaresysteme) geschrieben habe. Hole ich irgendwann nach, für den Moment nimmt mir Heinrich Hartmann diese Arbeit aber ab, in dem er gut darstellt, wie das bei seiner Firma (Zalando) gemacht wird.



Was mir besonders gut daran gefällt: er streicht deutlich heraus, dass es sich bei Site Reliability Engineering nicht nur um ein rein technisches Thema handelt, sondern um ein technisch-soziales, das ohne Berücksichtigung der Anwender, bzw. ihrer Wünsche und Reaktionen, nicht zu denken ist.

Montag, 4. November 2024

Unternehmens-Multikultur

Noch einmal zum Thema Unternehmenskultur. Wie bereits an anderer Stelle geschrieben hat jedes auch nur halbwegs grosse Unternehmen nicht nur eine Kultur, sondern mehrere, die parallel zu einander existieren: eine in der Fertigung, eine im Vertrieb, eine in der Finanzabteilung, eine in der Software-Entwicklung, etc. Das gilt übrigens auch dort, wo offiziell etwas anderes behauptet wird, wo die "offiziell verkündete Kultur" total positiv erscheint oder wo sie von allen gewollt wird.


Das wirft aber weitere Fragen auf: sind diese verschiedenen Kulturen überhaupt miteinander kompatibel? Wiedersprechen sie nicht ggf. sogar in ihren Grundannahmen und Werten? Ist es auf dieser Basis überhaupt möglich, eine gemeinsame (Firmen-)Identität zu schaffen und sich auf gemeinsame Ziele zu einigen? Oder muss man nicht befürchten, dass die verschiedenen kulturellen Gruppen eher gegeneinander als miteinander arbeiten? Alles berechtigte Punkte.


Die gute Nachricht an dieser Stelle ist, dass es bereits seit langem eine umfangreiche wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema gibt, nämlich in der Soziologie, genauer gesagt in der Kultursoziologie. Zwar beschäftigt die sich eher mit Gesellschaften als Unternehmen, die Ergebnisse sind aber übertragbar. Bekannte Forscher sind hier Milton M. Gordon, John Rex oder Alf Mintzel (der in seinem Buch Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika eine gute Übersicht über das Thema gibt).


Das (vereinfachte) Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen in der Lage sind, in multikulturellen Umgebungen ihre Kultur temporär zu wechseln. In der Gesellschaft könnte dieser Wechsel z.B. zwischen Familie und Beruf stattfinden, in einem Unternehmen z.B. zwischen Projekt und Linie. In beiden Umfeldern werden dabei jeweils (bewusst oder unbewusst) die Verhaltensmuster an den Tag gelegt, von denen angenommen wird, dass sie in der jeweiligen Situation Kultur-konform sind.


Natürlich sind mit dieser Art von Multikultur Risiken verbunden. Zum einen kann es beim Aufeinandertreffen der jeweiligen kulturellen Gruppen für den, der zwischen ihnen wechselt, zu Rollenkonflikten kommen (zu wem verhält man sich jetzt kompatibel?), zum anderen sind während der temporären Zugehörigkeit zur einen Gruppe die Anliegen der anderen Gruppe nicht mehr so einfach zu erklären, ohne aus der Rolle zu fallen (die Folge ist der so genannte Kontext-Kollaps).


Um derartige Missverständnisse und daraus folgende potentielle Konflikte zu entschärfen, neigen multikulturelle Gesellschften (bzw. Unternehmen) dazu, selbstorganisiert jeweils zwei Varianten jeder einzelnen ihrer Teil-Kulturen herauszubilden: die primäre, die nur innerhalb der jeweils gleichartig ausgeprägten Gruppen ausgelebt wird, und die sekundäre, die dort ausgelebt wird, wo sich der Wirkungs- und Wahrnehmungsraum verschiedener kultureller Gruppen überschneiden.


Dabei kann es dazu kommen, dass die von den verschiedenen Einzelgruppen herausgebildeten Sekundär-Kulturen sich so ähnlich sind, dass sie sie kaum noch unterscheiden lassen. In einer Betrachtung von aussen kann dadurch der Eindruck entstehen, dass es doch eine gemeinsame, einheitliche Unternehmenskultur gäbe. Da diese Annahmen die parallel existierenden Primär-Kulturen nicht beachten, halten sie einer näheren Betrachtung aber kaum stand.


PS:

Die hier genannte Unternehmens-Multikultur ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem in grossen Unternehmen häufigen Zusammenarbeiten verschiedener Nationalitäten oder Ethnien. Es gibt zwar Überschneidungen, aber trotzdem ist es nochmal ein eigenes Thema, zu dem es eine eigene wissenschaftliche Forschung gibt.