The agile Vice
Ein Hoch auf die Wissenschaft! Heute auf den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Jason Furman, der am Peterson Institute for International Economics in Washington DC eine vielbeachtete Vorlesung zum Thema des aktuellen Zustands seines Fachgebiets gehalten hat, die den schönen Namen In Defense of the Dismal Science trägt. Daraus ist vor allem ein Aspekt interessant, der des unterschiedlichen Umgangs mit Change-Projekten duch unterschiedliche Gruppen.
In einer bewussten Vereinfachung teilt Furman alle an Veränderungen Beteiligten Menschen in zwei Gruppen ein, die er die Progressivenen ("the Liberals")1 und die Konservativen nennt. Beiden wirft er dabei ein jeweils spezifisches Laster (englisch: Vice) vor, womit er meint, dass beide Gruppen beim Umgang mit Veränderungen zu bestimmten Denkfehlern neigen, die beide dazu führen, dass es ihnen schwer fällt, für ihre Sichtweisen Mehrheiten zu gewinnen.
The way in which this happens often varies between liberals and conservatives. I am going to overgeneralize in describing what I call the “liberal vice” and “conservative vice” in policy analysis. But disclaimer: many liberals and conservatives do not suffer from these vices and moreover some liberals suffer from the conservative vice and vice versa.
Jason Furman, 2024: In Defense of the Dismal Science
The Conservative Vice
Das konservative Laster besteht darin, in allen Veränderungen vor allem die damit verbundenen Risiken zu sehen und sie in Folge dessen derartig mit Befürchtungen zu überladen, dass am Ende ein unrealistisch bedrohliches Zerrbild entsteht, aufgrunddessen alles Neue abgelehnt wird. Wie gesagt überzeichnet Furman bewusst, aber der Kern seiner Aussage ist nachvollziehbar.
The Liberal Vice
Das progressive Laster besteht darin, dass in allen Veränderungen vor allem die dadurch potentiell möglichen Verbesserungen gesehen werden, während die ebenfalls möglichen Verschlechterungen ausgeblendet oder sogar negiert werden. Das so entstehende gedankliche Konstrukt ist letztendlich genauso realitätsfern wie das Konservative.
In beiden Fällen ist das jeweilige Denkmuster mit dem Risiko verbunden, die Unterstützung aller anderen Beteiligten zu verlieren. Beim konservativen Laster, weil der Wunsch nach Veränderungen unterschätzt wird, bem progressiven Laster, weil berechtigte Sorgen und Ängste ignoriert werden. Und an der Stelle kommt jetzt die Transferleistung - lässt sich Furmas Idee der konservativen und progressiven Laster auf andere Themenfelder übertragen oder einengen? Ja, das geht.
The Agile Vice
Übertragen auf die agilen Transitionen, um die es auf dieser Seite ja im Wesentlichen geht, ist es so, dass sich vor allem ein Blick auf das progressive Laster lohnt, denn die Parallelen zu den in vielen dieser Transitionen gemachten Fehlern sind offensichtlich - so sehr, dass man in Anlehnung an Furman sogar von einem "agilen Laster" sprechen könnte.
Sowohl vom Management als auch von den "agilen Berufsmethodikern" wird die Umstellung des Arbeitsmodus auf Scrum, Kanban, SAFe und Co. meistens als ausschliessliche Win-Win-Rechnung verkauft: alles soll dadurch schneller, einfacher und besser werden und dabei auch noch mehr Spass machen als vorher. Was dabei unterschlagen wird: Agilität kommt mit einem Preis, dessen sollte man sich bewusst sein. Und er kommt oft in einer erstaunlichen Form: vielen zusätzlichen Regeln.
Wer jetzt innerlich protestiert, da er überzeugt ist, dass agiles Arbeiten keineswegs mit zusatzlichen Regeln verbunden ist, der ist dem agilen Laster bereits verfallen. Denn natürlich gibt es sie: WIP-Limits, Definitions of Done and Definitions of Reday, begrenzte Meeting-Dauern, mindestens ein Increment pro Sprint, gleichlange Sprints von maximal einem Monat Länge, kontinuierliche Integration, kontinuierliche Verbesserung, keine geteilte Product Owner Rolle, etc. Passend dazu noch einmal Jason Furman:
The more common problem is not that people who commit the liberal vice rule out too many policies because they reject anything with a tradeoff. Instead they are more likely to rule these policies in by getting the analysis wrong and denying the tradeoffs. People suffering from the liberal vice can be tempted to think that companies systematically make mistakes that, if corrected, would advance whatever other goals they have.Jason Furman, 2024: In Defense of the Dismal Science
Und spätestens hier dürfte beim Einen oder Anderen eine Selbsterkenntnis eintreten: wenn nicht alles problemlos läuft, dann liegt es nur an einer fehlerhaften Umsetzung; würden alle sich einfach verhalten wie gedacht, würde alles sofort gut werden - genau das ist es, was Agile Coaches und Scrum Master sich regelmässig gegenseitig versichern, wenn die erwarteten Verbesserungen ausbleiben und es ggf. sogar zu Verschlechterungen kommt.
Um es zu einem versönlichen Ende zu bringen - nicht jeder agilen Berufsmethodiker ist dem agilen Laster verfallen, und genau wie bei Furmans konservativen und progressiven Lastern handelt es sich dabei um eine Übertreibung. Was aber auch klar sein muss: diese Übertreibung veranschaulicht ein reales Problem, nämlich das (bewusste oder unbewusste) Ignorieren und Kleinreden des Preises, den man zahlen muss, wenn man agil arbeiten möchte.
Die Konsequenz sollte klar sein: ständiges Hinterfragen der eigenen Positionen, ständiges Überprüfen der eigenen Positionen auf Fehlannahmen, Einholen von Feedback der von den Veränderungen Betroffenen, Bereitschaft zur Einsicht der eigenen Fehlbarkeit. Oder mit anderen Worten - Anwendung von Inspect & Adapt auf die eigenen Überzeugungen. Eigentlich etwas, was im Umfeld agiler Arbeitsweisen das Normalste der Welt sein sollte.