Schrödinger's Agile
Es ist gerade wieder eine dieser Phasen, in denen der "State of Agile" lebhaft diskutiert wird. Auf der einen Seite werden fehlgeschlagene agile Transitionen und die Entlassung der Scrum Master in manchen Unternehmen als neuer Beleg für die seit ca 2005 periodisch auftauchende "Agile ist tot"-These genommen, auf der anderen Seite werden verschiedene Transitions-Erfolgsgeschichten und die zahlreichen Scrum- und Agile-Stellenausschreibungen als Beweis des Gegenteils betrachetet.
In meiner Wahrnehmung sind beide Standpunkte richtig, und zwar nicht so, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Genau wie Schrödingers Katze ist agiles Arbeiten gleichzeitig tot und am Leben, für beides gibt es eindeutige Anzeichen. Und genau wie im Fall von Schrödingers Katze wird eine konkrete Überprüfung eines einzelnen Sachverhalts zwar für diesen Einen eine Antwort für die Frage tot oder lebendig bringen, die aber die grundlegende Gleichzeitigkeit nicht auflöst.
Werden wir etwas konkreter. Über die Zeit haben sich verschiedene Spielarten der "real existierenden Agilität" herausgebildet, deren aktueller Zustand höchst unterschiedlich sein kann. Nimmt man die jeweils für sich genommen unter die Lupe, kann alles dabei sein, von erstaunlich lebendig bis kurz vor dem Ableben. Diese Einschätzungen sind alle natürlich hochgradig subjektiv, wobei ich schon glaube, durch Kunden, Akquise und Meetups einen überdurchschnittlich breiten Einblick zu haben.
Technische Agilität
Alive and kicking. Egal ob Oldschool (Extreme Programming), zeitgemäss (DevOps, CI/CD) oder avantgardistisch (Chaos Engineering, AI Driven), die technische Dimension des agilen Arbeitens ist der de facto-Standard in der Softwareentwicklung geworden. Tatsächlich tritt hier gerade ein, was ich vor fast 10 Jahren geahnt habe: die Verbreitung ist soweit fortgeschritten, dass oft nicht mehr von agiler Softwareentwicklung die Rede ist, sondern nur noch von zeitgemässer Softwareentwicklung.
Business-Agilität
Alive and kicking. Produktzentrierung, Design Thinking, Lean Startup, Business-Experimente, AB-Testing, MVPs, Low Code-Prototypen und mehr sind selbst in Grosskonzernen und traditionellen Familienunternehmen mittlerweile weit verbreitet - sogar so sehr, dass mitunter die Fach- und Marketingabteilungen ein genauso gutes, manchmal sogar besseres Verständnis von Agilität haben als die IT-Abteilungen. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.
Agiles PMO ("Team-Sekretariat")
Polytrauma. Ein Grossteil der Agile Coaches und Scrum Master dieser Welt hat leider das Klischee erfüllt, vor allem Meetings zu moderieren, Jira zu konfigurieren und die Teamkalender zu verwalten. Darin wird in vielen Firmen, aber auch in vielen Teams, kein Mehrwert mehr gesehen, und auch die Betroffenen selbst sind meistens unglücklich. Viele Entlassungen haben hier stattgefunden. Dort wo es "agile PMO-Kräfte" noch gibt, haben sie in der Regel zwei, drei oder noch mehr Teams zu betreuen.
Agiles Hands Off-Coaching
Tot. Bis zur Corona-Pandemie hat es einen weit verbreiteten Typ von Agile Coaches und Scrum Mastern gegeben, der durchgehend mit dem Team zusammensass, wenig selbst gemacht hat, aber regelmässig Beobachtungen geteilt und Feedback gegeben hat. Das war auch deutlich wertvoller als man auf den ersten Blick denken könnte, hat aber durch den Umschwung zur Remote-Arbeit 2020 schlagartig aufgehört zu funktionieren und zu existieren.
"Agiles" Life Coaching / Personal Coaching
Mausetot. Während der zuletzt genannte Typ für wertstiftendes Feedback mindestens ein Grundniveau an Wissen über Softwareentwicklung, Projektmanagement und Produktmanagement gebraucht hat, gab es daneben einen weiteren weitverbreiteten Typ, der dieses Wissen weder hatte noch wollte, und sich stattdessen auf (häufig ungefragtes) Life Coaching und Personal Coaching beschränkt hat ("Was macht das mit Dir?"). Diese Personen gehörten nicht nur in Krisenzeiten zu den ersten Personalabbau-Zielen.
Esoterisches Agile Coaching
Mausetot. Bei diesem Typ von Agile Coaches und Scrum Mastern fragt man sich rückwirkend, wie die sich jemals in nennenswerter Menge am Markt etablieren konnten. Pseudo-wissenschaftliche Ansätze wie neurolinguistische Programmierung, Eneagramme und Spiral Dynamics und extreme Überspitzungen grundlegend sinnvoller Konzepte, wie z.B. von gewaltfreier Kommunikation, waren schon immer schwer zu vermitteln, mittlerweile sind sie es gar nicht mehr.
Agiles Hands On-Coaching
Auf dem Weg der Besserung. Im Rahmen mancher Personalabbauprogramme sind zahlreiche agile Methodiker, die einen guten Job gemacht haben, mit den zuvor genannten in einen Topf geworfen und entlassen worden. In vielen Fällen ist danach aufgefallen, was plötzlich fehlt, so dass diese Stellen wieder aufgebaut wurden. Und bei vielen weiteren war die Wertschätzung so gross, dass ihre Positionen behalten konnten (wenn auch z.T. mit geändertem Jobtitel aber ähnlichen Aufgaben).
Agiler Zertifizierungsmarkt
Polytrauma. Über lange Jahre waren die Scrum-, SAFe- und Kanban-Zertifizierungslehrgänge sowohl Einnahmequelle als auch Vertriebskanal für viele Agile Coaches und agile Beratungen. Seit einiger Zeit wird der Wert dieser Zertifikate aber immer kritischer gesehen, während gleichzeitig immer neue Anbieter ein Überangebot geschaffen haben. Da für viele Zertifizierungs-Lizenzen eine Mindestmenge an Trainings nötig ist, sind die mitunter nur noch schlecht gebucht und dadurch ein Verlustgeschäft.
Agil-industrieller Komplex
Alive and kicking. Die meisten agilen Idealisten würden es sich anders wünschen, aber dem agil-industriellen Komplex geht es erstaunlich gut. Die Konzerne schmeissen zwar nicht mehr ganz so viel Geld aus dem Fenster um agile (Pseudo-)Transitionen und Skalierungsvorhaben durchzuführen, die Einführung von SAFe oder dem Spotify Model in Grossorganisationen ist aber immer noch ein solider Business Case, und das vermutlich noch lange.
Agile beyond IT
Den Umständen entsprechend. Die Zeit in der auch Einheiten wie HR, Hausmeisterdienst und Rechtsabteilung unbedingt Sprints, Dailies und OKRs haben wollten sind zwar vorbei, auf der anderen Seite haben Firmen wie Mercadona, Cleveland Clinics und SpaceX agile Praktiken weit aus der Softwareentwicklung herausgeführt und gelten in ihren Branchen sogar als Vorbilder. Darüber hinaus tritt Agilität unter z.T. anderem Namen noch in vielen weiteren Bereichen unentdeckt auf.
Was durch diese Übersicht klar wird: pauschale Aussagen wie "Agile ist tot" oder "Agile hat gewonnen" gehen an der vielschichtigen Realität vorbei.1 Und diese Situation wird dadurch, dass es zwischen einzenlen Unternehmen grosse Unterschiede gibt, nochmal vielschichtiger. Aus einer gewissen Distanz betrachtet muss man also grundsätzlich davon ausgehen, dass agiles Arbeiten sowohl lebendig als auch von uns gegangen sein kann. Was stimmt, sieht man nur im Einzelfall.