Affordanz
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Wenn irgendwo eine Methode zur Organisation von Arbeit ausprobiert wird, und das Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht, ist eine Aussage meistens nicht fern: die Methode selbst könne man nicht dafür verantwortlich machen, sie wäre nur ein Werkzeug. Bei anderer Benutzung hätte sie auch andere Ergebnisse gebracht. Das ist auch nicht falsch, es ist aber auch nicht völlig richtig, denn bis zu einem gewissen Grad verleiten Methoden ihre Anwender zu bestimmten Handlungen.
Der Fachbegriff für dieses Phänomen lautet Affordanz und lässt sich folgendermassen erklären: zum Gebrauch gedachte Subjekte haben Charakteristika, die bestimmte Anwendungen möglich oder unmöglich, anstrengend oder einfach und effektiv oder ineffektiv machen. Am Beispiel eines Hammers erklärt - das Einschlagen eines Nagels ist möglich, einfach und effektiv, das Eindrehen einer Schraube unmöglich, das Einreissen einer Wand möglich aber anstrengend und ineffektiv.
Auch auf die Methodenwelt lässt sich das Affordanz-Konzept übertragen, schliesslich sind auch Methoden zur Anwendung gedacht. Auch hier ein Beispiel: mit Scrum lässt sich die Arbeit eines einzelnen Software-Entwicklungsteams einfach und effektiv organisieren, der Betrieb einer Fabrik nach Scrum geht gar nicht, und im Regelbetrieb eines Call Center wäre es zwar möglich, aber durch die vielen (und in diesem Kontext unnötigen) Meetings hochgradig ineffektiv.
Das alles scheint bisher noch wenig bemerkenswert, hat aber an einer Stelle weitreichendere Implikationen als man auf den ersten Blick denken könnte, nämlich dort, wo eine Anwendung möglich aber ineffektiv ist. Der Erfinder des Affordanzkonzepts, der amerikanische Psychologe James J. Gibson, erkannte durch seine Forschung, dass alleine die Möglichkeit einer Anwendung dazu verleitet, sie wahrzunehmen - und zwar auch dann, wenn das wenig sinnvoll ist. Mit seinen eigenen Worten:
The affordances of the environment are what it offers [...], what it provides or furnishes, either for good or ill.
Und mit diesem Wissen im Hinterkopf können wir die Betrachtung einer Methode als neutrales Werkzeug nicht mehr aufrechterhalten, ihr Angebotscharakter verleitet zu bestimmten Umsetzungs-Arten. Scrum bietet die Möglichkeit, sich durch harte Definitions of Ready in Wasserfall-artige Phasen aufzuteilen? Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass genau das passieren wird. In SAFe lassen sich bis zu drei Hierarchie-Ebenen einrichten? Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird genau das passieren. Etc.
Um nicht missverstanden zu werden: Affordanz impliziert keine deterministische Gesetzmässigkeit, es ist also möglich, gegenzusteuern und eine unnötig schwerfällige Methodenumsetzung zu verhindern. Um das tun zu können ist es aber hilfreich, wenn man sich unterschwelliger psychologischer Mechanismen wie eben der Affordanz bewusst ist.