Montag, 12. August 2024

Goodhart's Law

Zu dem Bild über diesem Text gibt es folgende Legende: in einer Schulung verteilte der Dozent Plastikröhren und Tennisbälle an die Teilnehmer und forderte sie auf, möglichst viele Bälle in eine der Röhren zu stecken. Das Ziel dieser Übung war es, Kapazitätsgrenzen zu erkennen. Irgendetwas lenkte den Dozenten dann aber kurz ab, und als er sich wieder den Teilnehmern zuwandte war es geschehen - sie hatten die Bälle zerschnitten um sie besser stapeln zu können. Übung erfolgreich, Bälle kaputt.


Was meistens mit dieser Geschichte verdeutlicht werden soll, sind die praktischen Auswirkungen eines Erfahrungswertes, der den Namen Goodhart's Law trägt, benannt nach Charles Goodhart, der ihn erstmals 1975 in seinem Aufsatz Problems of monetary management : the U.K. experience veröffentlichte. Er lautet im Original "Any observed statistical regularity will tend to collapse once pressure is placed upon it for control purposes", wurde aber später zur heute bekannten Form vereinfacht:


"When a measure becomes a target, it ceases to be a good measure"

Goodhart's Law


Um dieses Gesetz zu verstehen, müssen wir kurz ausholen: wenn versucht wird, unübersichtliche, komplexe oder vernetzte Systeme oder Abläufe zu verändern, stösst man fast immer auf das selbe Problem - es ist nur schwer zu erkennen, ob die Veränderung auch wirklich eintritt, da die dafür notwendigen Informationen verteilt, abstrakt oder nur im Zusammenhang verständlich sind. Um trotzdem zu Erkenntnissen zu kommen, definiert und überprüft man meistens bestimmte Kennzahlen.


Welche das sind ist je nach Kontext unterschiedlich. In der Produktion können das Stückzahlen gefertigter Güter sein, in der Werbung Reichweiten, in der Politik Beliebtheitswerte, in der Unternehmensführung Gewinnsteigerungen, etc. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Wirksamkeit von Veränderungs-Programmen wahrnehmbar machen können, gleichzeitig aber auch, dass sie mit Vorsicht betrachet werden sollten. Der Preis für ihre Erstellung ist nämlich die Ausblendung anderer Informationen.


Produktivitätssteigerungen können z.B. Überproduktion und Marktübersättigung zur Folge haben, Reichweite und Beliebtheitswerte können im wahrsten Sinn des Wortes durch Werbekampagnen teuer erkauft sein und Gewinnsteigerungen können auf die Einsparung von Qualitätssicherungs-Massnahmen zurückgehen. Diese (und viele weitere) Zusatzinformationen sind für das Gesamtverständnis elementar, werden aber bei blosser Kennzahlen-Betrachtung unsichtbar.


Wenn jetzt der von Goodhart erwähnte Kontrolldruck einsetzt, der nur noch das Ziel hat, die definierten Kennzahlen zu verbessern, dann ist eine sehr häufige Folge die, dass das auf Kosten der Bereiche stattfindet, die durch die Kennzahlen-Fixierung unsichtbar geworden sind. Besonders wenn mit der Erreichung der Kennzahlen Geld verbunden ist (Bonus, Beförderung, o.ä.), kann es sogar dazu kommen, dass Schäden am Gesamtsystem dabei bewusst in Kauf genommen werden.


Dieses erschreckend häufige Phänomen ist es, dass Charles Goodhart zur Verfassung seiner "Gesetzmässigkeit" gebracht hat, die sich darum auch so formulieren liesse: Wenn aus einem unübersichtlichen, komplexen oder vernetzten System einzelne Kennzahlen herausgelöst und unter Optimierungsdruck gesetzt werden, dann sind Schäden am Gesamtsystem sehr wahrscheinlich. Das trifft sowohl im Grossen (Unternehmen) als auch im Kleinen (Tennisbälle, siehe oben) zu.


Daraus ergibt sich auch automatisch, wie es besser ginge: statt zu versuchen, nur einzelne Werte zu verbessern und alles andere weitgehend zu ignorieren, sollte immer das grosse Ganze im Blick bleiben, mit allen seinen Zusammenhängen, Abhängigkeiten und Dynamiken. Dabei können Kennzahlen hilfreiche Indikatoren sein, aber eben nicht mehr als das. Es ist sogar ok an ihrer Optimierung zu arbeiten, aber nur bei Mitberücksichtung von Kontext und Seitenauswirkungen. Dann tritt Goodhart's Law nicht ein.


Nachtrag:

Grafik: xkcd - CC BY-NC 2.5

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