Montag, 29. Juli 2024

The Agile Bookshelf: Kritik der grossen Geste

Bild: Wikimedia Commons / Romanist Dewiki - CC BY-SA 4.0

Zu den Problemen agiler, digitaler und sonstiger Unternehmenstransformationen gehört, dass sie kaum wissenschaftlich erforscht sind, da die meisten Firmen sich aus Sorge vor Wettbewerbern und Industriespionen nach aussen abschotten. Zum Glück gibt es aber andere, besser erforschte Transformationsprogramme, aus deren Erforschung man Rückschlüsse auf die Wirtschaft ziehen kann, zum Beispiel politisch-gesellschaftliche.


Mit derartigen politisch-gesellschaftlichen Transformationen beschäftigt sich das Buch Kritik der großen Geste - Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken des Soziologie-Professors Armin Nassehi. Sein Untersuchungsgegenstand sind die grossen Veränderungsprogramme der Regierungen, z.B. zur Eindämmung des Klimawandels oder zur Wiederaufrüstung. Die von ihm beschriebenen Effekte und Dynamiken lassen sich aber auch auf andere Themengebiete übertragen.


Eine der bemerkenswertesten Thesen des Buches ist die, dass Veränderungswiderstand oft erst durch die Veränderungsprogramme entsteht. Diese setzen an einem irgendwie unbefriedigenden Ist-Zustand an, müssen zu dessen Überwindung aber zuerst eine Bestandsaufnahme machen, um danach entscheiden zu können, was geändert werden soll. Dass erst dadurch anderen Menschen bewusst wird, wie der Ist-Zustand funktioniert, und was sie an ihm erhaltenswert finden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.


Eine weitere Beobachtung Nassehis, von der sein Buch auch ihren Namen hat, besteht darin, dass in grossen Transformationsprogrammen Zielverschiebungen stattfinden können. Um öffentlichkeitswirksam für die eigene Sache zu werben, werden eingängige Slogans und starke Bilder gesucht und kommuniziert, was dazu führen kann, dass unverhältnismässig viel Zeit und Energie in diese Tätigkeiten fliessen und im Folgenden der eigentlichen Veränderungsarbeit nicht mehr zur Verfügung stehen.


Gleichzeitig führt diese Art der grossen Botschaften schnell zu Vereinfachungen, zur Ausblendung komplexer Realitäts-Aspekte und zu moralischen Aufladungen, was fast schon zwangsläufig Widerstand erzeugen muss: wer auf inhaltliche Unstimmigkeiten und Umsetzungsprobleme hinweist wird (bewusst oder unbewusst) als unmodern, unverständig oder ähnliches eingeordnet, was bei denen die davon betroffen sind das Gefühl erzeugt, ungerecht und willkürlich behandelt zu werden.


Zuletzt leidet auch die Umsetzung der Veränderungsvorhaben unter der grossen Geste, mit der ihnen eigentlich zum Erfolg verholfen werden soll. Die zur besseren Verständlichkeit und Kommunizierbarkeit stark vereinfachten Lösungsansätze scheitern an der vernetzten und vielschichtigen Realität, gleichzeitig sind für differenzierte, evolutionäre oder lokal unterschiedliche Vorgehen kaum Ressourcen vorgesehen (und wenn doch werden sie oft als Abweichung vom grossen Ziel angesehen und bekämft).


Diese und andere Folgeerscheinungen gross angelegter und kommunizierter Transformationsprogramme kann man Nassehis Buch entnehmen. Nicht alles ist auf Unternehmens-Transformationen übertragbar, die Auswirkungen fehlgeleiter Veränderungsprogramme auf das Wahlverhalten der Menschen oder die Tendenz, im Kapitalismus die Ursache aller Probleme zu sehen, dürften z.B. in der Wirtschaft kaum eine Entsprechung haben. Gleichzeitig findet man aber auch viele Parallelen.


Absolut übertragbar ist auf jeden Fall die Idee, wie Veränderungen besser funktionieren können: dezentral, pragmatisch, praxisnah und sich immer wieder an die aktuellen und lokalen Gegebenheiten anpassend. Oder in Nassehis Worten: als "konkrete Gegenwarten, die je ihre eigenen Probleme lösen müssen." Dadurch ist zwar eine grosse und umfassende Mobilisierung möglichst aller Beteiligten und Betroffenen nicht mehr möglich, die Erfolgsaussichten sind dafür aber erheblich grösser.


Allen, die vor dem manchmal etwas gestelzten Sprachgebrauch der deutschen Wissenschaft nicht zurückschrecken, kann man die Kritik der grossen Geste nur empfehlen. Es ist ein interessanter Blick über den Tellerrand, der dabei helfen kann, Transformationsprogramme in Wirtschaft und Gesellschaft besser zu verstehen und ggf. auf eine zielführendere Art aufzusetzen als das üblicherweise der Fall ist.

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