Spät auftretende Verspätungen
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Es ist eines der Phänomene, mit denen man hochrangige Manger so wahnsinnig machen kann wie mit kaum einem anderen, und gleichzeitig ist es erstaunlich häufig: es geht um Projekte, von denen lange Zeit behauptet wird, dass sie im Plan liegen, in denen aber kurz vor dem geplanten Ende auf einmal erhebliche Verspätungen entstehen. Wer verstehen will, wie es meistens zu diesem Ärgernis kommt, kann es sich an einem bekannten Beispiel erklären lassen - den Zügen der Deutschen Bahn.
Regelmässige Zugreisende kennen sehr ähnliche Abläufe: vor dem Beginn ihrer Reise, z.B. von Bonn nach Köln, überprüft man in der App den Reiseplan, und der Zug ist pünktlich. Auf dem Weg zum Bahnhof nochmal, noch immer keine Verspätung. Eine Viertelstunde vor der geplanten Abfahrt empfängt man die erste kleine Verzögerungsmeldung von fünf Minuten, aus denen werden bald 10, dann 15, dann 20 ... irgendwann fährt der Zug schliesslich mit 45 Minuten Verspätung ein. Was ist da passiert?
Die vom freundlichen Schaffner durchgegebene Erklärung lautet, dass es kurz vor dem Bahnhof eine grössere Baustelle gibt, wegen der die Gleise nur langsam befahrbar sind. Dadurch verspätet sich irgendwann der erste Zug des Tages. Der zweite Zug muss hinter ihm halten und warten bis die Gleise frei sind, und danach auch langsam weiterfahren. Hinter dem wartet der dritte, bevor auch er verlangsamt weiterfährt, hinter dem der vierte, und je mehr es werden, desto mehr Verspätung kommt zusammen.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt: bis zu diesem Stau auf den Gleisen sind alle dort feststeckenden Züge pünktlich gewesen. Sie haben diese Stelle in der selben Zeit erreicht, die nötig gewesen wäre, wenn die gesamte Strecke frei befahrbar gewesen wäre. Und da nur der aktuelle Streckenstand überprüft wird um die Pünktlichkeit zu ermitteln, kommt es ab dort zum genannten Phänomen: bis kurz vor Bonn sind alle Züge pünktlich, sammeln auf den letzten Metern aber noch erhebliche Verspätungen an.
Die Parallelen zu Grossprojekten dürften offensichtlich sein: auch die passieren oft ein Stage- oder Quality-Gate nach dem nächsten in Time und in Budget, bis sie gegen Ende durch eines müssen, das viel mehr Zeit beansprucht als ursprünglich angenommen (häufig sind das Integration, QA, Rollout oder Inbetriebnahme). Und das Verrückte daran: Obwohl diese Verzögerungen absehbar sind, sind bis zu ihrem Eintreten alle Ampeln grün - schliesslich ist bis dahin noch alles im Zeitplan.
Der Weg es besser zu machen ist bei Zügen und Projekten der Gleiche: sobald absehbar ist, dass es in einem späteren Abschnitt zu Verspätungen kommen wird, müssen diese mit ihrem voraussichtlichen Wert zu der aktuellen Pünktlichkeits-Vorhersage addiert werden, auch (und gerade) dann, wenn bisher alle Zwischenziele dem Zeitplan entsprechend erreicht wurden. Nur dann hat die Pünktlichkeitsmessung überhaupt irgendeine Aussagekraft und Verwendbarkeit.
Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das passiert, ist übrigens, dass derjenige, der Verspätungen meldet, nicht dafür bestraft wird. Ist das doch der Fall, ist das für alle Beteiligten der frühen Phasen ein handfester Anreiz, nur Pünktlichkeitsmeldungen durchzugeben und die Verspätungsmeldung irgendwem möglichst weit hinten auf der Strecke zu überlassen. So entstehen aufgrund falscher Anreizgebung Wassermelonen-Projekte und Arschkarten-Lücken (mehr dazu hier).
Wenn derjenige, der die absehbar näherkommende Verspätungsursache meldet, nicht dafür bestraft wird, können bestenfalls noch Gegenmassnahmen ergriffen werden, schlimmstenfalls kann man aber zumindest die Verspätung mit ausreichendem Vorlauf kommunizieren. Den an der nächsten Station wartenden Menschen wird es dadurch möglich, sich darauf einzustellen, den eigenen Plan anzupassen und die durch die Verspätung freiwerdende Zeit anders zu benutzen als durch blosses Warten.
P.S.: der eine oder andere wird es sich schon gedacht haben - die Erklärung des Phänomens der spät auftretenden Verspätungen anhand der Züge von Bonn nach Köln kommt nicht von ungefähr. Wenn hier jemand von der Bahn mitliest: für den Reparaturbedarf auf der Strecke könnt Ihr nichts, aber realistische Verspätungs-Ankündigungen wären etwas, was vielen Reisenden wirklich helfen würde.