Montag, 22. Juli 2024

LeSS veröffentlicht eigenen Scrum Guide

Unter den agilen Frameworks ist LeSS (Large Scale Scrum) vermutlich das mit der kuriosesten Entstehungsgeschichte. Ursprünglich entwickelt um das eigentliche Scrum ohne inhaltliche Veränderungen in Skalierungs-Kontexte übertragen zu können, haben sich seine Urheber gegen 2017 entschlossen, sich vom original-Scrum abzukoppeln und ihre eigene, inhaltlich abweichende Version zu entwickeln. Diese Entwicklung ist seit Juli 2024 abgeschlossen, es gibt jetzt einen "LeSS Scrum Guide".



Die Abweichungen zum offiziellen Scrum Guide lassen sich dabei in zwei Kategorien einteilen: zum einen sind es Themen, zu denen die LeSS-Erfinder Craig Larman und Bas Vodde eine andere Meinung haben als die Scrum-Erfinder Jeff Sutherland und Ken Schwaber, zum anderen sind es redaktionelle Änderungen, die den formalen Aufbau des Scrum Guides (Reihenfolge und Gruppierung der Themen) verändern, inhaltlich aber alles beim Alten lassen.


Bei der ersten Kategorie, den inhaltlichen Abweichungen, ist vor allem das (Development-) Team zu nennen. Aus dem offiziellen Scrum wurde es 2020 entfernt und durch "the Developers" ersetzt, um zu verhindern, dass ein Teil-Team innerhalb des Scrum Teams entsteht, dem Product Owner und Scrum Master nicht angehören. LeSS geht in die andere Richtung - diese beiden Rollen sind hier ausserhalb der Teams auf einer übergreifenden Ebene (und nehmen dadurch z.B. auch nicht an den Retrospektiven teil).


Die zweite wichtige Abweichung ist das Zielbild: im offiziellen Scrum findet sich seit 2020 das übergreifende Product Goal, zu dessen Eigenschaften gehört, dass es erreicht und abgeschlossen werden kann (es kann danach ggf. durch ein neues ersetzt werden). Abweichend davon gibt es in LeSS die Product Vision, die deutlich abstrakter ist. Als Folge dessen ist ein abschliessendes Beenden der Arbeit am Product Backlog hier ausdrücklich nicht vorgesehen (und wird sogar explizit ausgeschlossen).


Die dritte Abweichung dreht sich um das Backlog Refinement. Im offiziellen Scrum ist es eine durchgehend stattfindende Tätigkeit, deren Anlass, Umfang und Teilnehmer nicht erwähnt werden. In LeSS ist es abweichend davon als optionales Meeting beschrieben, einschliesslich der Teilnehmer (Scrum-Rollen und ggf. Stakeholder), des Ablaufs und des möglichen Umfangs (maximal 10 Prozent des Sprints, eine Regel, die 2020 aus dem offiziellen Scrum Guide entfernt wurde).


Darüber hinaus gebt es verschiedene weitere, eher abstrakte Abweichungen. Beispielsweise enthält das Product Backlog im offiziellen Scrum "Work for a complex Problem", in LeSS dagegen "Ideas for incrementally creating a Product"; Scrum basiert laut offiziellem Scrum Guide auf "Empiricism and Lean Thinking", laut LeSS-Scrum Guide dagegen nur auf "Empiricism"; die Definition of Done ist offiziell ein Committment, in LeSS dagegen ein Agreement. Den meisten Lesern dürfte das kaum auffallen.


Die zweite Kategorie der Abweichungen des LeSS-Scrum Guide zum offiziellen Scrum Guide sind die redaktionellen Änderungen. Der Sprint steht nicht mehr im Abschnitt der Events (Meetings) sondern hat einen eigenen Abschnitt, die drei im Sprint Planning zu beantwortenden Fragen sind nicht mehr nummeriert, etc. Das Ziel ist vermutlich eine bessere Lesbarkeit und Verständlichkeit, erklärt werden die Gründe für diese Neuformatierung nicht näher.


Soviel zum Inhalt, als nächstes drängt sich die Frage auf: braucht denn irgendjemand diesen zweiten Scrum Guide? Aus Sicht der LeSS-Erfinder bestimmt, zumindest dann, wenn man ihr Framework anwendet, in dessen Rahmen mehrere Entwicklungsteams sich einen Product Owner und ein Product Backlog teilen. Aus einer Scrum-puristischen Sicht vermutlich eher nicht, alleine deshalb nicht, weil diese Skalierungs-Praktiken seit 2020 auch (optionale) Teile des offiziellen Scrum sind.


Am Ende wird jedes Unternehmen oder jedes Team selber entscheiden müssen, welchen der beiden Scrum Guides es besser findet und welchen nicht. Erfahrungsgemäss dürfte das in den meisten Fällen aber eine relativ nachrangige Frage sein. In der Praxis werden die Umsetzungen der beiden Varianten (wenn sie denn wie vorgegeben stattfinden) sich ohnehin nur durch Methoden-Experten unterscheiden lassen und sich für die Beteiligten gleich anfühlen.


Was auf jeden Fall kritisch anzumerken ist, ist, dass LeSS durch diesen neuen Guide in sich selbst inkonsistent wird. Auf der offiziellen Website LeSS.works findet sich zum Beispiel in der offiziellen Beschreibung des LeSS-Frameworks noch ein aus zwei Teilen bestehendes Planning, im LeSS-Scrum Guide sind es drei. In der Framework-Beschreibung wird von teambasierten Refinements abgeraten, im LeSS-Scrum Guide sind sie enthalten. Da muss noch aufgeräumt werden.


Zuletzt eine Beobachtung: im Abschnitt Purpose of the Scrum Guide haben die LeSS-Erfinder Larman und Vodde eine Spitze gegen Jeff Sutherland untergebracht - der offizielle Scrum Guide wird hier bezeichnet als "the Scrum Guide by Ken Schwaber". Das ist zwar nicht komplett falsch, dass Sutherland an der letzten Version nicht beteiligt war, ist offiziell bestätigt worden. Seinen Beitrag komplett unter den Tisch fallen zu lassen ist aber zumindest ungewöhnlich, wer weiss was da im Hintergrund passiert ist.

Related Articles