Kommentierte Links (CXVI)
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.
Je weiter man vom Silicon Valley entfernt ist, desto mehr neigt man dazu, die dortigen grossen agilen Vorzeigefirmen zu glorifizieren und zu mystifizieren. Carlos Arguelles' Erfahrungsberichte aus seiner Zeit bei Amazon und Google wirken in diesem Zusammenhang wie ein Realitätsschock, schliesslich beschreiben sie, dass in beiden Unternehmen Vorgehensweisen verbreitet sind, die eigentlich nicht State of the Art sind - geringe Testabdeckung bei Amazon, Flaky Tests bei Google. Die sehr unterschiedlichen Wege zur Kompensierung dieser Probleme zeigen, dass es nicht nur einen Weg zu technischer Exzellenz gibt. Es gibt mehrere, die nur in sich konsistent sein müssen.
Die Dabatte darüber, was eigentlich ein MVP ist, ist Jahrzehnte alt und wird vermutlich noch Jahrzehnte weitergehen. Und selbst wenn man sich auf
eine der vielen Varianten festgelegt hat bleibt die Frage, wie man in der Praxis Anforderungen und Systeme so schneiden kann, dass das Ergebnis (im positiven Sinn) "minimal" ist. Vladimir Kalmykov führt zu diesem Zweck das
Ausschlussmodell des "MVP Razor" ein, das aus einer schlichten Frage besteht: "Kann man das Produkt oder Feature noch stärker verkleinern, ohne seine Grundfunktionalität einzuschränken?" Das scheint zunächst banal, anhand anschaulicher Beispiele zeigt Kalmykov aber auf, dass mehr dahinter steckt als man zunächst denken könnte.
Zu den Büchern in meinem immer länger werdenden "Lese-Backlog" gehört auch
Untrapping Product Teams von David Pereira, über das ich schon viel Gutes gehört habe. In diesem Artikel greift er einen zentralen Inhalt seiner Buches auf, die 12 Produkt-Prinzipien. Aufgeteilt in die vier Kategorien Strategy, Discovery, Delivery und Collaboration ergeben sie ein kompaktes Set an Leitprinzipien, die einem Team dabei helfen können, nicht versehentlich in eines der verbreiteten Antipattern abzurutschen. In einem an den Artikel angehängten Kurzinterview durch Paweł Huryn werden sie danach noch weiter vertieft und eingeordnet. Vielleicht sollte ich die Reihhenfolge meiner noch ungelesenen Bücher ändern.
Zu den verbreiteten Mythen über agiles Arbeiten gehört, dass es nicht in Kontexten funktioniert, in denen es Deadlines und feste Planungshorizonte gibt. Adrian Baker entkräftet dieses Vorurteil nachhaltig, indem er eine ganze Reihe von Ansätzen aufzählt, mit denen es doch gelingen kann. Was seine Ausführungen von vielen anderen abhebt: statt sich in wolkige Richtlinien und abstrakte Konzepte zu flüchten, hebt er konkrete Praktiken und Funktionen aus Scrum, SAFe, XP,
Day One und (Huch!) Jira hervor, die man zu diesem Zweck nutzen kann. Das ist Praxisnähe im besten Sinne des Wortes, selbst wenn es bei dem einen oder anderen "agilen Puristen" zu Herzrasen führen mag.
Zum Abschluss einige Gedanken zum Thema Zielsetzungen. Anders als oft angenommen sind die in der (agilen) Produktentwicklung nicht zwangsläufig fix und unveränderbar, sondern sie können (und müssen) sich mit der Zeit ändern. In Analogie zu den Produkt- und Projekt-Lebenszyklen entwirft Itamar Gilad hier den Lebenszyklus der Entwicklungsziele, in dessen Verlauf sie nach und nach ihre Natur ändern. Der Begriff des "Moving Target" bekommt dadurch nochmal eine neue Bedeutungs-Dimension.