Donnerstag, 11. Juli 2024

Agile Success Stories: Das Compliance-MVP

Man soll ja Erfolge nicht nur feiern, sondern auch in Erinnerung behalten, denn wer sich ständig mit dem Beseitigen von Impediments und dem Kampf gegen Change Fatigue und Konzern-Trolle beschäftigen muss, kann sonst leicht in Frustration abrutschen. Um es nicht dazu kommen zu lassen, möchte ich von einer weiteren "agilen Erfolgsgeschichte" erzählen, die sich einmal im IT-Systemhaus einer grossen Bankengruppe zugetragen hat, bei der Entwicklung eines neuen Onlinebanking-Systems.


Agiles Arbeiten steckte dort noch in den Anfängen, und wie in vielen anderen Unternehmen auch wurde noch davon ausgegangen, dass es sich dabei nur um eine neue Arbeitsweise für die Software-Entwicklung handeln würde. Andere Organisationseinheiten reagierten nur mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Entrüstung, als angeregt wurde, dass auch sie ihren Arbeitsmodus ändern sollten. Ihre Ideen waren klar: sie wollten im Voraus definieren, was sie wollten, und dann warten bis es fertig war.


Was zu ihrer Überraschung anders war, war aber, dass ihnen schon früh mitgeteilt werden konnte, wie (un)realistisch ihre Vorstellungen waren. Durch feature- statt komponentenorientierte Entwicklung, frühe Integration und automatisiertes Testen war der reale Arbeitsfortschritt klar erkennbar, und durch eine grobe Schätzung der noch offenen Anforderungen auch die noch nötige Zeit, beziehungsweise die vermutlichen Liefertermine der fehlenden Features. Und nätürlich - die waren später als gewünscht.


Die ersten Reaktionen darauf waren abwiegeln und abstreiten. Es wäre doch noch viel zu früh für solche Aussagen, die Roadmap wäre schliesslich von Experten gemacht worden, die Entwicklungs-Teams müssten nur bereit sein, "etwas Gas zu geben", dann würde der Zeitplan wieder passen. Und so weiter. Allein - alle drei Wochen bestanden die Entwickler in den Sprint Reviews auf ihren schlechten Botschaften. Im ersten Quartal, im zweiten, im dritten, und am Anfang des vierten.


Wenige Monate blieben damit noch bis zum geplanten Go Live in der ersten Tochtergesellschaft, und plötzlich wollten auch die anderen Organisationseinheiten agil werden. Besonders ein Begriff hatte es ihnen auf einmal angetan: das Minimum Viable Product (MVP), in ihrem Verständnis ein nur auf das absolut Notwendige reduzierter Funktionsumfang, mit dem der anvisierte Termin noch irgendwie zu halten sein müsste. Den wollten sie haben, und den glaubten die Entwickler auch liefern zu können.


In der Folgezeit wurden die Anforderungen Seite um Seite zusammengestrichen. Opulente Redaktions-Workflows? Erstmal nicht. Der komplette Nachbau aller Features des alten Systems im Neuen? Völlig übertrieben. Die Umstellung aller internen CMS-Seiten auf die Fonts, Formen und Farben des Corporate Design? Unnötig. Etc. Am Ende blieb nur ein letztes der unrealistisch grossen Arbeitspakete übrig, das angeblich nicht verhandelbar war. Das so genannte Reporting Center.


Dieses letzte laut Compliance-Abteilung zwingend nötige Feature sollte sicherstellen, dass sich nachvollziehen liess, welcher interne Mitarbeiter wann welche Änderungen in dem Onlinebanking-System vorgenommen hatte. Zu diesem Zweck sollte es möglich sein, sich alle Änderungen anzeigen zu lassen, sie nach Zeitraum, Bearbeiterrolle oder betroffenem Teilsystem zu filtern und grafisch aufbereitet anzeigen zu lassen. "Wenn es das nicht gibt, macht uns die Bafin den Laden zu", hiess es.


Als zwei Wochen vor Weihnachten absehbar wurde, dass auch diese Drohung nicht zu einer wundersamen schnellen Fertigstellung führen würde, fiel auf einmal auch hier das neue magische Wort. "Gibt es nicht auch davon ein MVP, und wenn ja, welches?" Und es gab eines - eine aus dem System exportierte Tabelle aller Bearbeitungsvorgänge, mit dem Angebot der Entwickler, ggf. beim Verständnis zu helfen. Und ein inoffizielles Vorfühlen bei der Bafin ergab: für die erste Version würde das reichen.


Und damit war es geschafft. Das Go Live in der ersten Tochtergesellschaft konnte wie geplant stattfinden, und nicht nur das. Die dort mit dem MVP-System arbeitenden Mitarbeiter konnten gefragt werden, wie sie mit dem System zurechtkamen, ihnen konnte gesagt werden, welche Features sonst noch geplant waren, und was sie vermutlich kosten würden. Und völlig überraschend kam das Feedback, dass viele davon gar nicht benötigt würden und stattdessen etwas Anderes sinnvoll wäre.


Dem Vernehmen nach ist das etwas überdimensionierte Reporting Center irgendwann doch gekommen, aber trotzdem enthält diese Geschichte einigen von dem, was agiles Arbeiten so wirkungsvoll macht: frühe Auslieferung, hohe Transparenz, ständiges Feedback, ein MVP, aus dem man mehr über die echten Bedürfnisse echter Anwender lernen kann und eine Anpassung der Pläne an die Realität (statt des Versuchs das Gegenteil zu erzwingen). Und all das in einer stark regulierten Branche.


"So sollten wir öfter arbeiten", hatte einer der Bank-Manager mir zum Ende meines Einsatzes gesagt. Ich wünsche ihm und seinen Leuten, dass das seitdem auch passiert ist.

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