Dienstag, 11. Juni 2024

Agile Success Stories: Ein Kanban-Board mit 19 Spalten

Es ist mal wieder Zeit für eine Agile Success Story. Wer sich ständig mit dem Beseitigen von Impediments und dem Kampf gegen Change Fatigue und Konzern-Trolle beschäftigen muss, kann leicht in Frustration abrutschen, das kann man viel zu oft bei Agile Coaches, Scrum Mastern und ähnlichen Rollen erleben. Um nicht selbst in dieses Muster verfallen, möchte ich dagegenhalten, indem ich selbst erlebte "agile Erfolgsgeschichten" veröffentliche, heute eine zum Thema Kanban.


Eigentlich hatte ich den Auftrag gar nicht annehmen wollen. Insgesamt sieben verschiedene Abteilungen eines Kunden wollten "ihre Zusammenarbeit agiler machen", davon drei Fachabteilungen, zwei aus der IT, eine aus Operations und eine aus dem Einkauf. Das klang als Herausforderung durchaus spannend, das Problem war aber das Budget - für eine Woche in Vollzeit würde es reichen, danach nur noch für vier Tage pro Monat während des restlichen Jahres. Im Grunde viel zu wenig.


Am Ende liess ich mich darauf ein, wenn auch mit einer klaren Einschränkung: in dieser knappen Zeit würde zu Beginn kaum mehr möglich sein als die Ermittlung und Visualisierung des Value Streams, und in späteren wöchentlichen Terminen ein Inspect & Adapt in kleinen Schritten. Die urspünglich vom Kunden gewünschte Einführung eines agilen Skalierungsframeworks wäre mit diesem geringen Aufwand illusorisch gewesen. Das wurde angenommen, also legten wir los.


Bereits das Value Stream Mapping war dann anspruchsvoll genug. Es handelte sich um eine geschäftskritische Anwendung, die auf Wunsch interner und externer Stakeholder ständig weiterentwickelt wurde. Neue Features wurden jeweils von einer der drei Fachabteilungen beauftragt und entweder von einer der beiden internen IT-Abteilungen oder durch externe Dienstleister (koordiniert durch den Einkauf) entwickelt.


Das, was dieses Vorgehen schwierig machte, waren Unübersichtlichkeit und Intransparenz. Es gab so viele Feature Requests (die natürlich alle dringend waren), dass niemand einen Gesamtüberblick darüber hatte, welche internen oder externen Entwickler gearde im Auftrag welcher Fachabteilung etwas umsetzten. Das Ergebnis waren redundante Arbeiten, die Entwicklung inkompatibler Features, ständige Nacharbeiten, zu hohe Arbeitsbelastung und ständig gerissene Deadlines.


Nach einer Woche intensiven Nachforschens gab es dann ein erstes Ergebnis: abhängig von den beiden Variablen bestehendes/neues Budget und interne/externe Entwicklung liessen sich drei Varianten des Value Streams identifizieren, eine mit 10 Stationen, eine mit 15 und eine mit 19 (!). Da das bei weitem zu viel war um auf einem Bildschirm überblickbar zu sein, fand die Visualisierung in Form eines physischen Kanban-Boards statt - Drei Zeilen mit jeweils 10, 15 und 19 Spalten.1


Bis zu unserem ersten Einzeltermin hatten die verschiedenen Einheiten sich dann die Aufgabe mitgenommen, alle grösseren Arbeitspakete an denen sie gerade sassen auf dieses Board zu bringen. Als ich nach einer Woche zurückkam war ich erstmal erschlagen - mehr als 60 verschiedene Zettel hingen über das ganze Board verstreut, jeder einzelne davon als Symbolisierung eines Gesamtaufwandes von mindestens einer Personenwoche. Kein Wunder, dass bisher die Übersicht gefehlt hatte.


Eigentlich hatte ich als nächstes vor diesem Board ein Daily etablieren wollen, was aber in einem lauten Proteststurm unterging ("Nicht noch mehr Meetings", wurde gefordert). Worauf sich alle einlassen konnten war aber ein wöchentlicher Termin, in dem Vertreter der sieben Abteilungen alles was in den letzten Tagen stattgefunden hatte auf dem Board aktualisierten, egal ob es neue Requests, Entwicklungsfortschritte, Budget-Zusagen oder sonst etwas waren.


Was in diesen Terminen auffällig war, war, dass nahezu jede Aktualisierung eine mittelgrosse Diskussion auslöste. Deren Inhalte reichten von Überraschung und Interesse über Zustimmung und Feedback bis hin zu Protest und Sinnfragen. Nahezu jeder der teilnahm hatte irgendetwas zu irgendeinem Thema beizutragen, so dass es regelmässig mehr als zwei Stunden dauerte, bis auf dem Board alles auf den aktuellen Stand gebracht war.2


Das wirklich Bemerkenswerte an diesen "Kanban Weeklies" war aber nicht ihre Länge. Anders als man es hätte erwarten können gab es kaum Beschwerden darüber, dass in sie so viel Zeit investiert werden musste oder dass in ihnen so viele Themen diskutiert wurden. Stattdessen wurde regelmässig hervorgehoben, wieviel grösser durch sie Transparenz, Übersichtlichkeit und als Folge dessen auch Planbarkeit und Reaktionsfähigkeit geworden wären.


Gleich mehrfach konnten neue Feature Requests einzelner Fachabteilungen bereits im Anbahnungsstatus gestoppt werden, weil eine der anderen darauf hinwies, etwas Vergleichbares bereits beauftragt zu haben. Die Entwicklungsabteilungen konnten besser absehen, wann grössere Arbeitspakete bei ihnen einschlagen würden und sich entsprechend Zeit einplanen. Die Operations-Abteilung konnte sich auf Lastspitzen durch neue Features besser einstellen. Etc, etc, etc.


Selbst wenn es WIP-Limits, Service-Klassen, Durchlauf-Metriken und viele andere Ideen die ich hatte aufgrund des beschränkten Zeitbudgets nicht mehr in dieses Kanban-System geschafft haben, wurden das Board uns seine Benutzung von allen Beteiligten als eine spürbare Verbesserung gesehen, durch die die meisten der oben genannten Probleme (redundante Arbeit, Intransparenz, ständige Nacharbeiten, etc.) spürbar zurückgegangen waren.


Auch ich habe aus diesem Einsatz eine Lehre mitgenommen: auch eine punktuelle Begleitung kann unter Umständen völlig ausreichend sein. Es braucht nicht immer einen Scrum Master, Kanban Coach oder sonstigen Methodiker, der in Vollzeit ein Team begleitet, manchmal kann es genügen, den Arbeitsfluss zu visualisieren, alle Beteiligten dazu zu bewegen ihn sich regelmässig gemeinsam anzusehen und darauf zu vertrauen, dass sich daraus die richtigen Dinge ergeben werden.


Und eine zweite Erkenntnis (die ich aber bereits vorher hatte) gebe ich noch dazu. Ab einer bestimmten Grösse sollten Kanban-Boards in physischer Form aufgebaut werden, eines wie das hier beschriebene könnte man auf keinem Bildschirm auch nur annäherungsweise übersichtlich darstellen. Um eines meiner Lieblingszitate zu bringen: "When you put a problem in a computer, the box hides the answer. The problem must be visible!"



1Also deutlich mehr als auf dem Symbolbild auf dieser Seite
2Ich meine mich sogar an einen Termin erinnern zu können, der mehr als vier Stunden dauerte

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