Dienstag, 28. Mai 2024

Nein, das ist nicht die Unternehmenskultur

Unter Unternehmensberatern gibt es einen alten Witz: wenn man etwas über die Kultur eines Unternehmens wissen will, dann sollte man sich zuerst ihre offizielle Beschreibung zeigen lassen - denn dann weiss man zumindest wie sie nicht ist. Das ist sicher zynisch, das ist aber auch in den meisten Fällen wahr, denn die offiziellen Unternehmenskulturen stimmen nur selten mit denen, die tatsächlichen im Alltag gelebt werden, überein.


Bevor wir auf die Gründe dafür eingehen, ein kurzer Hinweis: es ist in diesem Zusammenhang egal auf welchem Weg die offizielle Unternehmenskultur entstanden ist, wie sinnvoll oder menschenfreundlich sie erscheint, wie sehr sich die Belegschaft mit ihr identifiziert oder wie stark und häufig sie betont oder verlangt wird. Es gibt strukturelle Gründe die praktisch immer dafür sorgen, dass offizielle und gelebte Kultur sich unterscheiden. Hier sind sie:


Kultur ist ausdifferenziert und nicht in wenigen Schlagwörtern beschreibbar

Die meisten offiziellen Beschreibungen von Unternehmenskulturen bestehen nur aus wenigen Werten, Prinzipien oder Umgangsregeln. Selbst wenn diese zutreffen sollten, würden sie aber nur einen Teil der jeweiligen Kultur beschreiben, zu der ausserdem noch Glaubenssätze, Verhaltens- und Deutungsmuster, mündliche Überlieferungen (wisst Ihr noch, damals in Projekt Omega ...), sprachliche Besonderheiten, Traditionen und viele weitere Dinge gehören, die insgesamt ganze Bücher füllen würden.


Kultur ist nicht nur positiv

Was praktisch alle offiziellen Kulturbeschreibungen gemeinsam haben ist, dass sie ausschliesslich positive Aspekte beschreiben: Verlässlichkeit, Solidarität, freundlicher Umgang, Leistungsbereitschaft, etc. In der Realität gehören zu praktisch jeder Kultur aber auch negative Aspekte, die häufig sogar mit den positiven zusammenhängen: Sorgfalt führt z.B. oft zu Perfektionismus, Experimentierfreude zu Unvorsichtigkeit, und so weiter. Ohne diese Aspekte sind Kulturbeschreibungen unvollständig.


Kultur ist nicht überall im Unternehmen gleich

Schon in kleinen Unternehmen existieren verschiedene (Teil-)kulturen, die sich zum Teil deutlich unterscheiden: Innendienst und Aussendienst, Entwicklung und Marketing oder Management-Ebene und Umsetzungs-Ebene weichen mitunter so stark voneinender ab, dass von einer gemeinsamen Kultur kaum noch die Rede sein kann. Und in Grossorganisationen kann jedes Ressort oder sogar jede Abteilung eine eigene Kultur haben, die mit der offiziellen nur in Teilen übereinstimmt.


Kultur ist nicht stabil

Mit anderen Worten: selbst wenn die offizielle Unternehmenskultur einmal mit der tatsächlich gelebten übereinstimmen sollte, wäre das nur eine Momentaufnahme. Kommende und gehende Kollegen, steigender Wettbewerbsdruck mit darauf folgenden Verteilungskämpfen um knapper werdende Ressourcen, technische Entwicklungen, gesellschaftliche Trends und vieles mehr tragen ununterbrochen dazu bei, dass Kultur sich verändert - weg von der offiziellen Beschreibung.


Kultur ist subjektiv

Zuletzt: egal was Teil einer offiziellen Unternehmenskultur ist, verschiedene Menschen werden diese Begriffe unterschiedlich verstehen. Gerade die häufig verwandten Schlagworte wie Respekt, Verantwortung, Offenheit, Gemeinsamkeit und Ähnliche sind so generisch, dass sich unterschiedliche Deutungen nicht verhindern lassen. Die Folge ist, dass zwar alle die Kultur mit den gleichen Worten beschreiben, das dahinterliegende Verständnis aber weit auseinandergehen kann.


Es würden sich vermutlich noch weitere Gründe dafür finden lassen, dass die offizielle und die tatsächlich gelebte Unternehmenskultur sich praktisch immer unterscheiden, aber auch aufgrund der hier bereits genannten dürfte klar sein: es ist so. Das macht die offiziellen Kulturbeschreibungen zwar nicht schlecht, es sorgt aber dafür, dass sie (wenn überhaupt) nur Teilaspekte oder Vergangenheitsformen beschreiben, und nicht das was im Alltag anzutreffen ist.


Man muss die schönen Kulturprogramme und -darstellungen auch deshalb nicht abschaffen, man kann sie durchaus beibehalten, wenn auch mit einer wichtigen Ergänzung: allen sollte bewusst sein, dass es sich bei ihnen nicht um eine aktuelle Zustandsbeschreibung handelt, sondern um ein ambitioniertes Zielbild, auf das man zwar hinarbeiten kann, das man aber nicht in Gänze oder dauerhaft erreichen kann. Wenn alle sich auf dieses ständige gemeinsame Hinarbeiten einigen, dann hat eine offizielle Unternehmenskultur einen Sinn. Sonst nicht.

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