Montag, 6. Mai 2024

Die Evolution der OKRs

Sobald ein agiles Framework ein gewisses Alter überschritten hat, entstehen in der Regel nach und nach verschiedene Varianten, die anfangs noch aufeinander aufbauen, später aber parallel zueinander existieren. Das ist bei Scrum und bei Kanban so gewesen, und es ist auch bei Objectives und Key Results (OKR) so. Da die neueren OKR-Varianten sich z.T. zu erstaunlich schwerfälligen Prozessframeworks entwickelt haben, lohnt ein Blick zurück - denn eigentlich ist es ursprünglich anders gedacht gewesen.


Wie immer bei derartigen Übersichten ist auch diese hier subjektiv, sie umfasst aber meiner Meinung nach die wichtigsten Spielarten und Entwicklungsstufen, bzw. die wichtigsten Vordenker. In der Realität dürften darüber hinaus noch zahlreiche Abwandlungen und Mischtypen anzutreffen sein, diese Liste hier dürfte aber die relevanten umfassen (wenn ich etwas übersehen haben sollte, freue ich mich über einen Hinweis, der hier abgegeben werden kann). Aber zur Sache, hier sind die Evolutionsstufen:


MBOSC (Management by Objectives and Self-Control)

Eine Früh- oder Vor-Version der heutigen OKRs, beschrieben in den 50er Jahren von Peter Drucker in seinem Buch The Practice of Management. Mit dezentraler Planung, Trennung von abstrakten Zielen und konkreten Ergebnissen und mit Zyklen von weniger als einem Jahr waren die Grundzüge der heutigen Praktiken bereits enthalten. Unter dem Namen Management by Objectives (MBO) wurde Druckers Ansatz leider später zu einem jährlichen Kontroll- und Budgetierungsinstrument verfremdet (siehe hier).


Ursprüngliche OKRs (Intel MBOs)

Die Ursprungsversion, entwickelt in den 70er Jahren von Intel-CEO Andy Grove und beschrieben in seinem Buch High Output Management. Grove definierte neben den abstrakten Zielen (Objectives), den konkreten Ergebnissen (Key Results) und den kurzen Zyklen (maximal ein Jahr) kaum Vorgaben zur Umsetzung, entwickelte aber schon die Idee "kaskadierender Objectives", die auf den unteren Hierarchie-Ebenen in Teilziele heruntergebrochen werden, und von denen jede eigene Key Results hat.


"Die" OKRs (Google OKRs)

Die Variante, die berühmt geworden ist. Der ehemalige Intel-Mitarbeiter John Doerr führte die OKRs bei Google ein, wo sie um weitere Teile ergänzt wurden, u.a. um die Begrenzung des Zyklus auf ein Quartal, um die Differenzierung in "committed" und "aspirational OKRs", die Einführung gemeinsamer OKRs für mehrere Teams und um eine nachträgliche Bewertung in Ampelfarben. Das von vielen anderen Firmen kopierte Google OKR Playbook findet sich abgedruckt in Doerrs Buch Measure What Matters.1


Silicon Valley OKRs

Die verschiedenen Unternehmen des Silicon Valley, die als erste den OKR-Ansatz von Google übernommenen haben, haben ihn mit der Zeit ebenfalls weiterentwickelt. Die bekanntesten Praktiken findet man zusammengefasst in Cristina Wodkes Buch Radical Focus, zu ihnen gehört u.a. die Beschränkung auf nur ein einziges, nach Möglichkeit firmenweites Objective pro Zyklus,2 die dezentrale Erarbeitung der Key Results durch die Teams und die Einführung regelmässiger OKR-Meetings.


Scrumifizierte OKRs

Wer auf die Idee gekommen ist, die OKR-Meetings analog zu denen aus Scrum zu organisieren, lässt sich vermutlich nicht mehr feststellen, aber er hat einen Trend gesetzt. OKR-Plannings, OKR-Dailies/Weeklies, OKR-Reviews und OKR-Retrospektiven sind mittlerweile weit verbreitet, und für die Organisation und Moderation dieser Termine gibt es einen an den Scrum Master oder Agile Coach angelehnten OKR Master oder OKR Coach.3


Agile Industrial Complex OKRs

Dass angessichts dieser Geschichte einer immer stärkeren Formalisierung auch das Kommerzialisierungs-Potential gestiegen ist, dürfte wenig überraschen. Der agil-industrielle Komplex hat seit ca 2020 auch die OKR-Idee mit weiteren Regeln, Rollen, Formulierungs-Templates, prozessunterstützender Software und Ähnlichem überflutet, die dann in den Trainings und Zertifizierungsprüfungen auftauchen können. Genau wie im Fall von Scrum und Kanban übrigens mit teuren aber meistens überschaubaren Ergebnissen.


Gerade vor dem Hintergrund dieser letzten "Evolutionsstufe" ist es nicht verwunderlich, dass OKRs vor allem in grossen Organisationen eher als Management-Mode wahrgenommen werden und weniger als etwas Sinnvolles. In derartigen Fällen können die hier verlinkten Grundlagen-Bücher gegebenenfalls Klarheit bringen. Aus ihnen lässt sich erkennen, was der eigentliche Kern der Idee ist, und bei was es sich um Overhead handelt, der auch weggelassen werden kann.



1Das Playbook ist übrigens nicht mehr ganz aktuell, Google hat seinen OKR-Ansatz seitdem weiterentwickelt
2Daher auch der Name des Buchs
3Möglicherweise ist der Hintergrund der, dass Scrum ursprünglich keinen mittelfristigen Planungshorizont hatte, und Scrum Teams sich diese mit Hilfe von OKRs gesetzt haben. Das wäre dann seit dem 2020 in Scrum aufgenommenen Produktziel eigentlich obsolet.

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