Donnerstag, 4. April 2024

Sturgeon's Law

Wenn wir über Sturgeon's Law (Sturgeons Gesetz) reden, müssen wir damit beginnen, dass es häufig verwechselt wird, und zwar mit einer anderen Beobachtung, die ebenfalls auf den amerikanischen Autor Theodore Sturgeon zurückgeht - mit Sturgeon's Revelation (Sturgeons Offenbarung). Allerdings bauen die beiden aufeinander auf, um das Gesetz zu verstehen muss man also die Offenbarung kennen. Beginnen wir also mit ihr. Sie lautet in aller Schlichtheit:


Ninety percent of everything is crap (Neunzig Prozent von allem ist Mist)
Theodore Sturgeon, Sturgeon's Revelation


Dieses Statement benötigt Kontext. Sturgeon war ein früher Fantasy- und Science Fiction-Autor und lebte in einer Zeit, als diese Genres noch neu waren und von Kritikern als künstlerisch wenig anspruchsvoll betrachtet wurden. Von ihnen wurden zuerst alle Science Fiction und Fantasy als "zu Neunzig Prozent Mist" bezeichnet, was Sturgeon dazu brachte, sie mit der Qualität der restlichen Literatur zu vergleichen. Dabei entstand seine Erkenntnis, dass auch bei der maximal zehn Prozent wirklich gut waren.1


Angesichts dieser Vergleichbarkeit stellte sich für Sturgeon eine Folgefrage: warum war das Ansehen der neuen Genres so viel schlechter? Seine Antwort (und gewissermassen seine zweite Erkenntnis) war, dass sie nicht mit dem Durchschnitt der bisherigen Literatur verglichen wurden, sondern mit den Klassikern und Bestsellern. Diesen Vergleich konnten sie natürlich nur verlieren. Sturgeon's Law (von dem es verschiedene Varianten gibt) sollte derartig unfaire Vergleiche verhindern:


Nothing is always absolutely so. [...] The best science fiction is as good as the best fiction in any field (Nichts kann undifferenziert beurteilt werden [...] Betrachtet man nur die besten Science Fiction-Werke, sind sie ähnlich gut wie die besten Werken anderer Stilrichtungen)
Theodore Sturgeon, Sturgeons Law


So weit, so naheliegend, aber was haben diese eher literaturwissenschaftlichen Überlegungen mit der Welt der Prozesse und Methoden zu tun, um die es auf dieser Seite schwerpunktmässig geht? Mehr als man denkt, denn Sturgeon's Law lässt sich hierher übertragen. Auch neue Methoden werden ständig entwickelt (z.B. POPCORN oder FAST) und oft auf die erwähnte ungerechte Art mit den bereits existierenden, fertig ausentwickelten Ansätzen verglichen. Sturgeon würde auch dem widersprechen.


Ein Vergleich neuer und bestehender Methoden macht nur Sinn, wenn die Vergleichsobjekte der beiden Gruppen basierend auf ähnlichen Kriterien ausgewählt wurden
Sinngemässe Übertragung von Sturgeons Law


Dementsprechend können bewusst rudimentäre neue Ansätze, wie die gerade erwähnten, nur mit den vergleichbar minimalistischen unter den bewährten Vorgehensweisen verglichen werden, z.B. den sieben Mudas. Umgekehrt wären die passenden Vergleichswerte für die klassischen, schwergewichtigen Projektmanagement-Methodiken von PMI und Prince2 nicht einfache Frameworks wie Scrum oder Extreme Programming, sondern eher die "agilen Schwergewichte" wie SAFe oder Disciplined Agile.2


Natürlich verhindert eine derartige Zuordnung von äquivalenten Vergleichsobjekten viele der aus starken Unterschieden ableitbaren Pauschalurteile, wie z.B. "das ist doch viel zu umfangreich" oder "da wird doch ganz Vieles gar nicht bedacht". Genau das ist aber der Vorteil, den die Anwendung von Sturgeons Law bringt - man muss jetzt ähnlich grosse, ähnlich weit ausentwickelte Ansätze einander gegenüberstellen. Ihre Unterschiede (bzw. deren Fehlen) werden dadurch deutlich besser erkennbar.


PS: Unabhängig von Sturgeons Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen kann man natürlich Vorlieben für schwer- oder leichtgewichtige Frameworks haben, das ist jedem unbenommen. Diese untereinander zu vergleichen ist aber häufig ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen, und daher meistens nur wenig zielführend.



1Natürlich ist diese Zahl hochgradig subjektiv, aber dass ein Großteil aller erschienenen Bücher nur kleine Auflagen hat, liegt auch an der Qualität
2Und im Vergleich zwischen den agilen Frameworks müsste man z.B. FAST an dem ähnlich grossen Scrum messen, statt an dem deutlich grösseren SAFe

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