Montag, 15. April 2024

KI und Agilität (Probleme und Potentiale)

"Die Zukunft hat bereits begonnen, alles ist jetzt anders und unsere Art zu arbeiten wird sich fundamental ändern." Ungefähr das können wir uns regelmässig anhören, seit 2022 die KI-Anwendungen auf den Massenmarkt gekommen sind.1 Auch für die agile Produktentwicklung wurden und werden derartige Vorhersagen gemacht, und nachdem mittlerweile einige Zeit verstrichen ist, können wir ein erstes Zwischenfazit ziehen: was ist an neuen Möglichkeiten dazugekommen und wie sinnvoll sind die?


Meine (sehr subjektive) Übersicht ist in sechs Kategorien gegliedert: Gefährlicher Blödsinn, Quellenfreie Blaupausen und Banalitäten, Kleine Produktivitäts-Hacks, Grosse Macht und grosse Verantwortung, Riesiges Potential, aber nur schwer umsetzbar und Jenseits der Vorstellungskraft. Man sieht, es ist von allem etwas dabei, ungefähr angeordnet entlang einer Skala zwischen Unsinn und Grossartig. An der können wir uns bei der Betrachtung entlanghangeln.


Gefährlicher Blödsinn

Fangen wir mit dem grössten Quatsch an, dem Scrum Master-Chatbot, der Meetings moderieren oder bei der Formulierung von User Stories helfen kann. Diese Programme sind nicht nur deshalb problematisch, weil sie nicht in der Lage sind, Kontext, Emotionen und nonverbale Signale zu erkennen, sie setzen auf vollständig falschen Prämissen auf, nämlich auf denen, dass der Scrum Master alle Meetings moderiert oder dass alle Anforderungen User Stories sein müssen. Sie richten mehr Schaden als Nutzen an.


Quellenfreie Blaupausen und Banalitäten

"Wie strukturiert man ein Refinement Meeting?" oder "Wie ist ein Kanban-Board aufgebaut?" Derartige Fragen kann man sich von einem Chatbot beantworten lassen. Das ist auch schön und gut, allerdings bewegen sich derartige Fragen auf dem grundlegendsten Einsteiger-Level, wo sie mit dem Risiko verbunden sind, unreflektiert als (im Zweifel unpassende) Blaupause verwandt zu werden. Dazu kommt noch ein weiterer Punkt: ohne Quellenangabe ist nicht klar, wie seriös die ursprüngliche Quelle ist.


Kleine Produktivitäts-Hacks

Ab hier fängt es an, sinnvoll zu werden. Ein KI-Chatbot kann ein Meeting aufzeichnen und zusammenfassen, er kann erste Entwürfe für Präsentationen erstellen und Visualisierungen anfertigen. Unabhängig davon, dass das nur wenig mit Agilität im eigentlichen Sinn zu tun hat, kann es natürlich Zeit sparen. Zumnindest im Moment aber nur im geringen Ausmass, da die Ergebnisse noch so schlecht sind, dass man sie manuell überarbeiten muss.


Grosse Macht und grosse Verantwortung

Auf diesem Punkt ruhen zur Zeit die grössten Hoffnungen: einer KI wird eine Anforderung gegeben und sie erzeugt in Sekunden den Quellcode, alternativ kann sie menschengeschriebenen Code reviewen oder bereinigen. Das kann den Inspect & Adapt-Prozess bemerkenswert beschleunigen, zu beachten ist aber, dass eine KI nur so gut sein kann wie der Durchschnitt ihres Trainingsmaterials. Es besteht daher das Risiko, dass sie unzeitgemässe oder unsichere Software erzeugt.2 Das sollte sorgfältig überprüft werden.


Riesiges Potential, aber nur schwer umsetzbar

Stellen wir uns eine KI vor, der man Aussagen, Fragen und Feedback von tausenden Mitarbeitern schicken kann und die daraus die wesentlichen Züge der Unternehmenskultur extrahiert. Oder eine andere, die aus internen Entwicklungsmetriken bisher unentdeckte Zusammenhänge ablesen kann. Das könnte dabei helfen, Change- und Optimierungsprogramme um ein Vielfaches wirksamer zu machen. Das Problem: kaum ein Unternehmen hat die dafür nötigen Daten in ausreichender Qualität vorliegen.3


Jenseits der Vorstellungskraft

Man muss sich eines bewusst machen: die technische Entwicklung hat gerade erst angefangen. Genau wie bei den ersten Smartphones noch nicht absehbar war, dass sie einmal als Fahrkarte oder Fernbedienung benutzt werden könnten, wird sich bei den KI-Anwendungen ebenfalls noch Einiges ergeben, was jetzt noch nicht absehbar ist. Aber das bedeutet natürlich auch, dass es hier noch nicht besprochen und bewertet werden kann. Das dauert noch.


Zusammengefasst kann man sagen, dass zwar grosse Potentiale erkennbar sind, die wirkliche Revolution der (agilen) Arbeitswelt aber noch ausgeblieben ist. Zum Teil liegt das daran, dass der Einsatz von KI zum Teil in nicht zielführenden Zusammenhängen stattfindet, zum anderen daran, dass die für einen wirklich disruptiven Einsatz notwendigen Voraussetzungen oder Sicherheitsvorkehrungen noch fehlen. Aber das soll nicht heissen, dass es auch so bleiben muss.


Ein häufiges Muster bei technologischen Innovationen ist, dass die kurzfristigen Effekte überschätzt, die langfristigen aber unterschätzt werden. Sollte das auch hier der Fall sein, wird sich das erst in einigen Jahren bemerkbar machen. Bis dahin sollte man zwar technologie-offen bleiben, die Erwartungen an umwälzende Veränderungen aber auf ein realistisches Mass herunterfahren.



1Da der Begriff unscharf ist: gemeint sind hier vor allem Large Language Models.
2Aus diesem Grund sind derartige Anwendungen in vielen Unternehmen zur Zeit intern noch nicht zugelassen.
3Nein, wirklich nicht. Die Daten in Tracking-Tools wie Jira oder Polarion sind in der Regel unvollständig und nur in den seltensten Fällen aktuell gehalten, und die Fragen in Feedback-Tools sind fast immer durch vorgegebene Kategorien, Längenbegrenzungen oder vorgegebene Antwortoptionen suggestiv gestaltet.

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