Explore, Expand, Extract, Exploit
Zu den Konzepten auf denen ich mittlerweile schon einige Zeit herumdenke, gehört Explore, Expand, Extract vom Extreme Programming-Erfinder Kent Beck (siehe hier und hier). Ähnlich wie bei der Idee des Methodenwechsels im Projektlebenszyklus geht er davon aus, dass unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht mit einem immer gleichen methodischen Ansatz begegnet werden sollte, sondern dass auch das Vorgehen an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden sollte.
Was mich an dieser Idee beschäftigt hat ist, dass die Situation vieler Produkte (bzw. Produkt-Teams) bei unseren Kunden in keine der drei Kategorien so richtig hineingepasst hat, vermutlich weil deutsche Konzerne sich nun mal deutlich vom Silicon Valley unterscheiden (Beck entwickelte sein Konzept während seiner Zeit bei Facebook). Um es auch hier anwenden zu können habe ich es daher erweitert, so dass es jetzt vier statt Kategorien hat: Explore, Expand, Extract und Exploit.
Explore
Exploration ist etwas, was in deutschen Konzernen selten stattfindet, in Startups aber ständig. Wieder und wieder werden neue Features entworfen, als MVP mit möglichst geringem Aufwand umgesetzt und an die Kunden/Benutzer ausgeliefert. Werden die Neuerungen von denen ignoriert oder abgelehnt werden sie schnell entsorgt, werden sie gut angenommen bleiben sie im Produkt und durchlaufen dann idealerweise ein Refactoring, um besser betreibbar und erweiterbar zu werden.
Expand
Während die meisten der so implementierten Features ein solides aber beherrschbares Wachstum hinlegen, gibt es einige, deren Nutzung für eine kurze Zeit explosionsartig zunimmt. In dieser so genannten Expansion-Phase müssen unter Hochdruck Infrastruktur und Verarbeitungskapazität erweitert werden, um zu verhindern, dass Performance-Probleme und Ausfälle die gerade herbeiströmenden Kunden/Benutzer wieder vertreiben. Für Beck die einzige Phase in der Überstunden Sinn machen.
Extract
Sobald dieses explosionsartige Wachstum vorbei ist, folgt die Extraction-Phase. Nachdem in Expansion-Phasen zur schnellen Erweiterung von Infrastruktur und Verarbeitungskapazität ggf. auch redundante oder überdimensionierte Lösungen bewusst in Kauf genommen werden können, können diese während der Extraction durch Vereinheitlichung oder Ressourcen-Optimierung zurückgebaut oder billiger gemacht werden (ich kenne dafür aus meinen Kunden-Einsätzen auch den Begriff "Cost Down").
Exploit
Apropos Kunden-Einsätze: in ihnen habe ich die erwähnte vierte Dimension erlebt, die ich in Fortführung der mit "Ex-" beginnenden Namen die Exploitation-Phase nenne. In ihr sind Explore, Expand und Extract bereits abgeschlossen (z.T. bereits seit langem) und die Features befinden sich im Cash Cow-Modus. Das heisst, dass sie bereits etabliert und kostenoptimiert sind und jetzt mit möglichst geringen Investitionen erhalten und betrieben werden, um möglichst lange profitabel sein zu können.
Selbst wenn man sich im Organisations- und Prozessdesign grundsätzlich vor Patentrezepten hüten sollte, kann man diese vier Kategorien jetzt nutzen, um ihnen naheliegende Methodiken und Erfolgskriterien zuzuordnen. In Expand könnte das Lean Startup mit der Metrik MVPs pro Monat sein, In Expand ein Task Force-Modus mit dem Ziel möglichst geringer Down-Times oder kurzer Mean Time to Recovery, in Extract kann in Iterationen gearbeitet werden, die Einspareffekte zum Ziel haben, und in Exploit können Kanban-Systeme Sinn machen, die auf die Optimierung von Ressourcen-Effizienz ausgelegt sind.
Unabhängig davon, ob am Ende diese oder andere Ausgestaltungen entstehen, der zentrale Punkt im Explore, Expand, Extract, Exploit-Modell ist der, dass in jeder der vier Kategorien andere Ansätze Sinn machen und daher nicht versucht werden sollte, in allen mit dem immer gleichen Vorgehen zu arbeiten. Und wenn dann auch noch erkannt wird, dass viele Vorhaben sich zwischen den Kategorien hin- und herbewegen, ist die Chance gross, für fast jede Herausforderung das passende Organisationsmodell finden zu können.