Warum Mitarbeiter Probleme nicht melden
Eine wiederkehrende Beschwerde in vielen grossen Organisationen ist die, dass "die da oben" die Probleme der Umsetzungsebene gar nicht kennen würden. Tatsächlich ist daran auch häufig etwas Wahres, denn wer die Gelegenheit hat, sowohl mit den höheren als auch mit den unteren Hierarchie-Ebenen zu sprechen, der wird merken, dass die Umsetzung vieler grosser Pläne und Strategien ganz oder teilweise scheitert, ohne dass das dem Top-Management bewusst ist.
"Warum sagen die Mitarbeiter uns das dann nicht?" ist eine häufige Frage, die daraufhin auf den oberen Hierarchie-Ebenen gestellt wird, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Sie ist durchaus berechtigt, aber leider nicht einfach zu beantworten. Um so dankbarer kann man John Cutler, einem Silicon Valley-Thought Leader, dafür sein, dass er häufige Gründe für eine derartige ausbleibende Kommunikation zusammengetragen hat (und zwar hier). Hier ist ihre Übersetzung ins Deutsche.
Gefühlt ausreichende Kommunikation
Es kann vorkommen, dass Mitarbeiter Probleme schon mehrmals nach oben kommuniziert haben und das Gefühl haben, das nicht nochmal wiederholen zu müssen, da diese ja mittlerweile bekannt sein sollten. Vor allem wenn diese Rückmeldungen über längere Zeiträume verteilt waren, kann das "von oben gesehen" den Eindruck erwecken, dass es keine nennenswerte Unzufriedenheit gibt.
Emotionale Erschöpfung
Wenn Missstände über einen längeren Zeitraum bestehen, ohne dass es zu wahrnehmbaren Verbesserungen oder Verbesserungsbemühungen kommt, kann es zu Erschöfungs- und Resignationseffeken kommen, die dazu führen, dass die Betroffenen sich mit diesen für sie frustrierenden Themen nicht mehr beschäftigen wollen, selbst wenn die Probleme ungelöst bleiben.
Gewöhnungseffekte
Ein anderer Effekt von über einen längeren Zeitraum bestehenden ungelösten Missständen kann sein, dass diese irgendwann als normal und darum als nicht mehr erwähnenswert empfunden werden. Ggf. kann das sogar zur Folge haben, dass Menschen, die in der Organisation ihre berufliche Sozialisierung erfahren haben (z.B. Auszubildenden), die Probleme nie bewusst geworden sind.
Kognitive Dissonanzen
Falls Mitarbeiter grosse Aufwände in den Versuch von Problembehebungen investiert haben, kann es sein, dass unbewusste Selbstrechtfertigungen stattfinden. Um das Gefühl haben zu können, dass diese Anstengungen nicht umsonst gewesen sind, kommt es zu einer unrealistisch positiven Wahrnehmung der Situation, selbst dann wenn es tatsächlich kaum zu Verbesserungen gekommen ist.
Verschobene Erwartungen
Ähnlich wie im Fall der Gewöhnungseffekte tritt bei den verschobenen Erwartungen das Gefühl ein, dass über einen längeren Zeitraum bestehende ungelöste Missstände der (neue) Normalfall sind. Der Unterschied liegt darin, dass die Dysfunktionalität zwar noch (emotionslos) erkannt wird, es aber keine Erwartung mehr gibt, dass irgendjemand ein Interesse an der Behebung haben könnte.
Lokale Unbedenklichkeit
Viele Dysfunktionen haben in der Gesamtsicht erhebliche Auswirkungen, führen in den verschiedenen Teilen der Ausführungsebene aber nur zu geringen Unannehmlichkeiten (z.B. dann wenn es nach einer Übergabe zu einer anderen Abteilung zu langen Wartezeiten kommt, bis dort die Arbeit weitergeht). Aus einer lokalen Sicht ist in solchen Fällen oft gar nicht erkennbar, dass Probleme vorliegen.
Konzentration auf den eigenen Verantwortungsbereich
Vor allem wenn viele verschiedene Missstände vorliegen, ist es eine häufige Bewältigungsstrategie, sich auf das zu konzentrieren, was im Bereich der eigenen Kontrolle liegt. Für Probleme die ausserhalb des eigenen Kontrollbereichs liegen fühlt man sich dann nicht mehr zuständig - auch nicht dafür, herauszufinden, wer zuständig ist, und sie dort zu addressieren.
Angst vor negativen Auswirkungen von Problem-Meldungen
Wer nach dem Ansprechen von Problemen negative Konsequenzen fürchten muss, wird das eher selten tun, ggf. sogar gar nicht. Zu diesen negativen Konsequenzen gehören dabei nicht nur Bestrafungen oder Mehrarbeit (durch den Auftrag, das Problem selbst zu lösen), sondern auch ein befürchteter Ansehensverlust der eigenen Person oder Einheit, durch deren Verbindung mit den Problemen.
Hedonistische Tretmühlen
Unter diesem Konzept versteht man die Tendenz, bzw. den Wunsch vieler Menschen, sich von negativen Ereignissen "nicht aus der Bahn werfen zu lassen". Bei einer negativen Veränderung von Zufriedenheits-Faktoren führt das dazu, dass eher neue gesucht werden, als dass an der Wiederherstellung der alten gearbeitet wird, da das "ein schnellerer Weg zum Glück" ist.
Die Quintessenz dieser Aufzählung: selbst bei offensichtlichen Problemen sollte man nicht zu sehr darauf vertrauen, dass diese von den Mitarbeitern gemeldet werden, es gibt verschiedene soziale und psychologische Phänomene, die dafür sorgen können, dass das unterbleibt. Um zu verhindern, dass es zu langfristig unentdeckten Missständen kommt, müssen auch die oberen Hierarchie-Ebenen selbst und aus eigenem Antrieb immer wieder danach suchen.
P.S.
Der Focus dieses Beitrages auf soziale und psychologische Phänomene der Umsetzungs-Ebene bedeutet nicht, dass die Ursachen fehlender Rückmeldungen ausschliesslich dort liegen. Auch in den mittleren und oberen Ebenen gibt es Faktoren, die dazu beitragen können. Die sind aber ein eigenes Thema.