Donnerstag, 7. September 2023

Institutionelles Gedächtnis

Manchmal hilft es, Dinge mit einem gewissen Abstand zu betrachten. In diesem Sinn wirft die britische Zeitung The Guardian gerade einen Blick zurück auf die Regierungszeit der ehemaligen Premierministerin Liz Truss, die nur 49 Tage dauerte. Eine der interessanteren Diagnosen aus diesem Text ist, dass Truss unter anderem deshalb scheiterte, weil sie durch zu viele Stellen-Neubesetzungen das institutionelle Gedächtnis der eigenen Verwaltung zerstörte. Was hat es damit auf sich?


Das institutionelle Gedächtnis ist eine Unter- und Sonderform des kollektiven Gedächtnisses und bezeichnet das gesammelte Wissen und die Summe der Erfahrungen einer organisierten Gruppe von Menschen, insbesondere in einer formalisierten Institution wie z. B. einer Behörde oder Firma. Es ist vor allem im Zusammenhang mit informellen Strukturen und Prozessen wichtig, also solchen, die nicht offiziell festgelegt und schriftlich festgehalten wurden.


Zu den typischen Informationen aus dem institutionellen Gedächtnis gehört, welche Inhalte wo abgelegt sind, welche Vorhaben in der Vergangenheit unternommen wurden (und wie), welche Mitarbeiter mit welchen anderen bekannt und vernetzt sind, wer bereits mit welchem Themengebiet zu tun hatte und wer besser oder schlechter mit bestimmten Rahmenbedingungen klarkommt (z.B. mit Stress, nicht-muttersprachlicher Kommunikation oder besonders hoher, bzw. niedriger Formalisierung).


Dieses Wissen kann für das Funktionieren einer Organisation entscheidend sein, da seine Träger in der Lage sind zu erkennen, an welcher Stelle welche Vorhaben mit geringen Reibungsverlusten umgesetzt werden können und an welchen Stellen mit Missverständnissen, Zusatzaufwänden, Ineffektivität oder Widerständen zu rechnen wäre. Wichtig dabei ist, dass bei einer rein formalen Betrachtung diese Unterschiede nicht wahrnehmbar wären, da sie sich nur aus der "Organisationsgeschichte" ergeben.


Vor allem nach Management- oder Regierungswechseln kann ein fehlendes institutionelles Gedächtnis von neuen Mitarbeitern dazu führen, dass die Ideen der neuen Führungsebene nur unter grossen Schwierigkeiten umgesetzt werden können, weshalb fast immer versucht wird, einen Teil der bisherigen Mitarbeiter zu übernehmen und einzubinden, selbst dann wenn man sich deren Loyalität nicht vollkommen sicher sein kann (ein bekanntes und besonders kontoverses Beispiel wäre dieses hier).


Für das, was passieren kann, wenn man nach einem Management-Wechsel versucht weitgehend ohne die bisherigen Mitarbeiter (und damit auch ohne deren nicht-verschriftlichtes Wissen) zu arbeiten, kann die zu Beginn erwähnte kurze Regierungszeit von Liz Truss als (abschreckendes) Beispiel gelten: dem von ihr mitgebrachten neue Regierungsteam fehlte das institutionelles Gedächtnis in einem derartigen Ausmass, dass es in vielen Bereichen handlungsunfähig war.


An overwhelming number of the senior figures brought into the administration had limited experience running a Whitehall department, let alone the country. The entire legislative affairs team – in charge of drafting and timetabling bills – was replaced too. “It was like she’d stripped off all the wallpaper, then the paint and floorboards too. There was basically zero institutional memory left,” one Truss-era cabinet minister said.


Wie immer gilt natürlich auch hier, dass es nicht nur einen Weg gibt, mit derartigen Situationen umzugehen. Statt Teile des bisherigen Teams zu übernehmen kann man z.B. auch Mitarbeiter-Interviews, Unterlagen-Recherche und andere Arten der "Geschichtsforschung" durchführen um ein neues institutionelles Gedächtnis aufzubauen. Wenn das geplant ist sollte man allerdings ausreichend Zeit einplanen und nicht erwarten sofort uneingeschränkt handlungsfähig zu sein.

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