Eliten-Überproduktion
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Um frische Impulse für das eigene Weltbild zu bekommen lohnt sich immer wieder ein Blick über den Tellerrand hinaus. Dort warten die gleichermassen interessanten wie kontroversen Ideen, unter anderem auch die von Peter Turchin, einem amerikanischen Biologen und Historiker, der in seinem neuesten Buch End Times - Elites, Counter-Elites, and the Path of Political Disintegration die These aufstellt, dass viele gesellschaftliche Konflikte auf eine zentrale Ursache zurückzuführen sind: die Überproduktion von Eliten bei einer gleichbleibenden oder schrumpfenden Menge von Ressourcen und Machtpositionen.1
Wie bei einigen anderen Theorien der Geisteswissenschaften bin ich auch bei dieser versucht sie auf meinen eigenen Kontext, also die sich verändernde Arbeitswelt rund um die agile Produktentwicklung, anzuwenden. Ist es möglicherweise auch hier so, dass vieles von den Konflikten, die wir in diesem Umfeld erleben, mit einer Eliten-Überproduktion erklärbar ist? Es gibt zumindest einige Indikatoren, die diese Deutung wahrscheinlich machen.
Zu Beginn eine kurze Begriffsklärung: unter einer Elite versteht man in der Soziologie eine relativ kleine Teilgruppe der Gesellschaft, die im Vergleich zu den anderen Teilgruppen überdurchschnittlichen Zugang zu Informationen, Mitteln oder Führungspositionen hat. Ein gesellschaftlicher Aufstieg in die Eliten ist grundsätzlich jedem möglich, es gibt aber Faktoren die ihn begünstigen, z.B. bestimmte Bildungs-Abschlüsse, geerbte und geschenkte Vermögen oder Unterstützungs-Netzwerke.2
Aus diesen Faktoren ergibt sich auch die erste Ursache einer Eliten-Überproduktion: bewusst oder unbewusst versuchen die bereits dort angekommenen Personen ihren Nachkommen oder den Angehörigen ihrer sozialen Gruppen und Milieus den Aufstig in die Elite zu erleichtern, sei es durch Vermittlung von Bildung oder durch finanzielle und berufliche Förderung. Findet das über einen längeren Zeitraum statt, übersteigt die Zahl der potentiellen Nachrücker irgendwann die der Eliten-Positionen.3
Die zweite Ursache ist eine Folge äusserer Einflüsse. Wenn es zu gesellschaftlichen, technischen oder wirtschaftlichen Umwälzungen kommt, führt das oft zu einem plötzlichen Zuwachs von Informationen, Mitteln oder Führungspositionen bei Gruppen die bisher nicht zu einer Elite gehörten. Anders als bei der ersten Ursache der Eliten-Überproduktion erfolgt der Zuwachs in diesem Fall nicht langsam und kontinuierlich sondern Schubweise.4
Beide Ursachen lassen sich in der aktuellen Arbeitswelt wiederfinden. Zum einen kommen die Kinder und Enkel der Gründer und Aufsteiger der 20. Jahrhunderts auf dem Arbeitsmarkt an und sollen dort eine Karriere haben, die mit der ihrer Eltern vergleichbar ist, zum anderen führen neue Bewegungen der Arbeitswelt zum Entstehen neuer Elitengruppen. Im Bereich der agilen Produktentwicklung ist vor allem das zweite der Fall, was seinen Grund in einer verbreiteten Wahrnehmungs-Diskrepanz hat.
Für viele eher klassisch beruflich sozialisierte Menschen erscheinen die "agilen Rollen" des Product Owners und des Scrum Master/Agile Coach aufgrund ihrer fehlenden direkten Weisungsbefugnisse wenig Eliten-geeignet und werden nicht angestrebt. Gleichzeitig lernen die Inhaber dieser Rollen, dass diese eigentlich so konzipiert sind, dass sie auch ohne Weisungsbefugnis fachliche oder methodische Führung ausüben können, sich also durchaus als Eliten verstehen lassen.
Die in vielen Unternehmen ständig ausgetragenen Machtkämpfe zwischen den neuen agilen Rollen und dem seit langem im eigenen Milieu nachrekrutierten traditionellen (Mittel-)Management lassen sich also im Sinn von Peter Turchin so interpretieren, dass sie die Folge einer (versehentlichen) Überproduktion von Eliten bei einer gleichbleibenden oder schrumpfenden Menge von Ressourcen und Machtpositionen sind und nicht aufhören werden solange diese Überproduktion weitergeht.
Wie so oft bei komplexen Problemlagen ist die Theorie der Eliten-Überproduktion zwar durchaus erhellend, bietet aber keinen einfachen und schnellen Weg der Verbesserung an - einfache Lösungen für komplexe Probleme sind nun mal sehr, sehr selten. In vielen Fällen würde es aber schon viel helfen, die Eliten-Überproduktion als reales Phänomen anzuerkennen und an ihrer Eindämmung zu arbeiten. Dadurch würde zwar nicht alles besser, zumindest wäre aber eine ständig in neue Konflikte führende Dynamik beendet, so dass dorthin keine Energie mehr abfliesst.
2Ein bekanntes Beispiel sind die Ehemaligen-Netzwerke grosser Unternehmensberatungen
3Die Menge an Mitteln und Führungspositionen ist endlich und damit auch der Eliten-Zugang
4Ein Beispiel dafür wäre das Aufkommen einer Unternehmer-Elite im 19. Jahrhundert