Fachkräftemangel und Selbstorganisation
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Zu den spannenden Fragen im Umfeld der stark auf selbstorganisierte Teams setzenden agilen Frameworks gehört diese: warum ist es vor allem in der Software-Entwicklung zu ihrer starken Verbreitung gekommen, während sie in anderen Branchen bisher eher Ausnahmeerscheinungen sind? Natürlich gibt es Erklärungsansätze, die aber meistens von der selben Prämisse ausgehen - der Komplexität des Arbeitsgegenstandes. Möglicherweise ist der Grund aber ein ganz anderer.
Zum besseren Verständnis kurz eine Erklärung der Arbeitsgegenstand-Hypothese. Sie beruht darauf, dass es sich bei der Softwareentwicklung um eine komplexe Tätigkeit handelt, also um eine, bei der Kleinteiligkeit, Vernetztheit und Volatilität dafür sorgen, dass ständig Neu- und Umgeplant werden muss. Da zentrale Befehls- oder Koordinations-Instanzen dabei zu verlangsamenden Flaschenhälsen werden können, wird angenommen, dass Selbstorganisation die logische Folge ist.
Was diese Annahme in Frage stellt ist ein Blick auf andere komplexe Arbeitskonstellationen. Z.B. unterliegen auch Filmproduktionen, Nachrichtenredaktionen und Spitzengastronomie den Faktoren Kleinteiligkeit, Vernetztheit und Volatilität, trotzdem ist Selbstorganisation in ihnen eher selten. Regelmässig aufkommende Skandale zeugen sogar vom Gegenteil: Macht-Zentralisierung (und Machtmissbrauch) sind weit verbreitet und werden stillschweigend geduldet.
Der zentrale Unterschied, der die IT-Branche von den gerade genannten (und vielen anderen) Branchen unterscheidet, ist der Fachkräftemangel. Während es auf dem Arbeitsmarkt ein deutliches Überangebot an Schauspielern, Kameraleuten, Journalisten und Köchen gibt, sind Softwareentwickler selten und schwer zu kriegen. Und selbst dort, wo es gelingt die freien Stellen zu besetzen, geschieht das häufig nur durch externe Dienstleister und Freiberufler.
Die sich daraus ergebenden Folgen kann sich jeder vorstellen: wer froh sein muss, einen von wenigen gut bezahlten Jobs ergattert zu haben, wird gegenüber seinem Vorgesetzten ein eher unterwürfiges Verhalten an den Tag legen, um ihn möglichst lange ausüben zu können. Und das sogar dann, wenn die Behandlung die man erfährt bestimmend, micro-managend oder sogar missbrauchend ist (in den oben verlinkten Artikeln sind z.T. verstörende Details zu lesen).
Umgekehrt wird jemand der nicht nur in kurzer Zeit sondern auch in der näheren Umgebung jederzeit eine neue, gleich gut bezahlte Anstellung finden kann, sich wenig gefallen lassen und im Zweifel durch eine Abstimmung mit den Füssen dafür sorgen, dass dominante Vorgesetzte bald niemanden mehr haben, den sie im Detail managen können. Und da jeder Manager das weiss wird er seinen Untergebenen bereits vorauseilend möglichst grosse Freiheiten gewähren.
Auch im Rahmen grosszügig gewährter Freiheiten muss aber sichergestellt sein, dass Kunden- und Unternehmens-Interessen und Gesetze gewahrt werden. Und da eine Erzwingung von oben die kostbaren Fachkräfte verschrecken könnte, ist die Gewährung von Selbstorganisation oft der beste Weg um zur Einhaltung dieser Vorgaben zu kommen - ihre Umsetzung wird einfach in die Verantwortung von selbstorganisierten Teams übergeben.
Um Missverständnisse zu vermeiden: damit soll nicht gesagt sein, dass die Annahme falsch ist, dass komplexe Herausforderungen am besten durch selbstorganisierte Teams gemeistert werden können. Vieles spricht dafür, dass das tatsächlich der Fall ist. Der tatsächliche Grund für die Zulassung und Förderung von selbstorganisiertem Arbeiten ist aber sehr oft eher darin zu finden, dass Jobs in den Mangelberufen der IT attraktiv ausgestaltet werden sollen.