Agile Workforce
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Wie stark die "agile Bewegung" über ihr ursprüngliches Umfeld in der Produktentwicklung von Software (und Hardware) hinausgewachsen ist, lässt sich an einem besonderen Phänomen beobachten: es gibt mittlerweile die ersten Hypes und Buzzwords die zu diesen Ursprungsgebieten keinen Bezug mehr haben und dort auch weitgehend unbekannt sind. Ein Beispiel dafür aus den letzten Jahren ist die "Agile Workforce". Was soll das jetzt schon wieder sein?
Zunächst kurz zur Begriffserklärung: "Workforce" wird meistens mit "Belegschaft" übersetzt, was aber die Bedeutung nicht zur Gänze wiedergibt. "Arbeitskraft" kommt ihr schon näher, ist im Deutschen aber bereits anders belegt. Die sinngemässe Übersetzung wäre in etwa "die Gesamtgruppe aller Arbeiter", woraus sich ergibt, dass "Agile Workforce" eine Angestelltengruppe beschreibt, die zu agilem Arbeiten in der Lage ist. Der eine oder andere wird jetzt bereits ahnen, wo diese Idee her kommt.
Fast alles was man bei einer Literatur-Recherche zu Agile Workforces findet, kommt aus dem HR-Bereich, und das mit einem besonderen Schwerpunkt auf Personalentwicklung. Es handelt sich dabei also nicht um eine Zustandsbeschreibung, sondern um ein Zielbild, an dessen Erreichung Personal- und Learning & Development-Abteilungen sowie externe Dienstleister arbeiten wollen, um so ihren Beitrag dazu zu leisten, dass ihre Unternehmen oder Kunden agil arbeiten können.
Der Nebel lichtet sich durch diese Erkenntnis etwas, einiges bleibt aber unklar. Was genau kann denn im Rahmen der Personalentwicklung gemacht werden, um die Belegschaft zu agilem Arbeiten zu befähigen? Wer in der Literatur nach Antworten hierauf sucht, wird sich erstmal durch eine Buzzword-Wolke kämpfen müssen, in der in verschiedenen Konstellationen Begriffe wie Mindset, Kultur, Werte und Prinzipien aufgezählt und als notwendig bezeichnet werden. Nicht falsch, aber auch nicht hilfreich.
Klarer wird es wenn man sich vor Augen hält, dass es zwei Dimensionen von Personalentwicklung gibt: Positionsorientiert und Potentialorientiert. In der ersten Dimension werden einzelne Personen auf bestimmte Aufgaben vorbereitet, z.B. die eines Product Owners oder DevOps Engineers. Das kann durch Aus-, Fort- und Weiterbildung geschehen, alternativ auch durch gezielte Rekrutierungen. Hier finden oft klassische HR-Techniken Verwendung, etwa Assessment Center und Schulungen.
Schwerer tun sich die meisten Firmen mit der zweiten, potentialorientierten Dimension. Die findet statt, wenn es noch nicht um die Besetzung bestimmter Positionen geht, sondern darum, unternehmensweit einen Talentpool an qualifizierten Mitarbeitern aufzubauen. Im Fall der angestrebten Agile Workforce sollen dabei möglichst viele Mitarbeiter auf einer abstrakten Ebene verstanden haben, was Agilität bedeutet, um dieses Wissen in allen potentiell möglichen Rollen anwenden zu können.
In der Praxis tritt diese Wissensvermittlung dann meistens in Form von Workshops zu Kultur und Werten auf, was auch grundsätzlich richtig ist. Schliesslich handelt es sich gerade bei diesen beiden Phänomenen um organisationsweit vorhandene Faktoren, die in praktisch jeder denkbaren Position Wirkung entfalten können. Vor allem in Umfeldern, in denen bereits agile Frameworks im Einsatz sind, können sie sogar wesentlich dazu beitragen, dass diese funktionieren wie gedacht.
Wie derartige Workshops aussehen können ist nochmal ein Thema für sich, grundsätzlich sollte aber vermittelt werden was Kultur und Werte sind, wie sie vor allem dort wo es keine (oder widersprüchliche) Prozessvorgaben gibt, den Arbeitsalltag prägen und wie sie gestaltet sein müssen um sicherzustellen, dass die von den agilen Frameworks bewusst offen gelassenen Lücken im Einzelfall so gefüllt werden, dass agiles Arbeiten möglich ist.
Beide Personalentwicklungs-Dimensionen sind aber auch nicht ohne Risiko: überall dort, wo nur für die Zukunft geschult oder geworkshopt wird, werden die vermittelten Inhalte durch ihre Gegenläufigkeit zur noch gelebten Praxis als Paradoxe Kommunikation wahrgenommen und ggf. abgelehnt werden. Und falls die Durchführung von Schulungen selbst zum Messkriterium für die Schaffung einer Agile Workforce wird, ist ein Abkippen in den agil-industriellen Komplex hochwahrscheinlich.
Das heisst natürlich nicht, dass man die Arbeit an der Herstellung einer Agile Workforce unterlassen sollte, man sollte es aber (wenig überraschend) selbst auf Basis agiler Prinzipien tun, also in kurzen Zyklen, ohne zu langen Planungsvorlauf und mit regelmässigen Validierungen und Feedbackschleifen. Dann kann es zu einem "Learning by doing" kommen, und zwar nicht nur bei den zu agilisierenden Angestellten, sondern auch bei den damit beschäftigten HR- und Learning & Development-Abteilungen selbst. Ein nicht zu unterschätzender Seiteneffekt.