Post-Transformation Bias
Bild: Wikimedia Commons / Erwin Soo - CC BY 2.0 |
"Grau ist alle Theorie, nur im Praxiseinsatz sieht man ob etwas funktioniert." Aufgrund von Überzeugungen wie dieser ist eine ganze Berater- und Erfahrungsbericht-Industrie um ehemalige Angestellte von vorbildhaft agil arbeitenden Firmen wie Google, Facebook, Netflix und Amazon entstanden, die Ratschläge zum agil werden geben. Das ist auch grundsätzlich nachvollziehbar, führt aber leider regelmässig in die Sackgasse. An einem Beispiel möchte ich erklären warum.1
In den letzten Wochen wurde in meinem Bekanntenkreis wiederholt ein Interview einer ehemaligen Amazon-Managerin herumgereicht,2 in dem diese betont, dass das Geheimnis der Agilität in dieser Firma darin liege, keine grossen, jahrelang dauernden Veränderungsprogramme zu starten sondern nur einzelne kleine, und auch die vor allem mit Focus auf Mindset und Achtsamkeit. Das klingt gut und bedient auch ein in der agilen Community beliebtes Narrativ, es ist aber leider inhaltlich falsch.
Wer sich mit der Geschichte von Amazon beschäftigt (z.B. hier und hier) wird das genaue Gegenteil entdecken. Um das Jahr 2000 herum war das Unternehmen durch schnelles Wachstum gross und eher träge geworden, weshalb es (Surprise!) ein grosses, mehrere Jahre dauerndes Veränderungsprogramm startete. Vieles von dem was heute seine Agilität ausmacht (kleine, empowerte Teams mit Verantwortung über klar abgegrenzte Services mit klar definierten Schnittstellen zu anderen Teams) entstand damals.
Die Frage die sich jetzt stellt: wie konnte es angesichts dieser Vergangenheit zu einer derartigen Falsch-Einschätzung der besagten Amazon-Managerin kommen? Die vermutliche Antwort: sie war Opfer einer Wahrnehmungs-Verzerrung die man "Post-Transformation Bias" nennen könnte. Als sie Amazon kennenlernte wird Change Management dort durch viele kleine Massnahmen üblich gewesen sein, dass das aber nur aufgrund eines früheren Grossprogramms möglich war wurde ihr aber nicht erzählt.
Dieses Muster kann man bei Unternehmen mit gut funktionierenden Prozessen immer wieder antreffen. In Unkenntnis der Existenz oder der Tragweite vergangener Umorganisationen wird der durch sie möglich gewordene leichtgewichtige und flexible Arbeitsmodus selbst für das Erfolgsgeheimnis gehalten, selbst wenn die vorgelagerten Weichenstellungen viel wichtiger und entscheidender gewesen sind. Schlimmstenfalls kann diese Fehlannahme sogar ins kollektive Gedächtnis der Firma übergehen.
2Hier nicht verlinkt, da ich sie nicht an den Pranger stellen möchte