Donnerstag, 26. Januar 2023

Das Integrationsparadox

Bild: Pexels / Fauxels - Lizenz

Eine immer wieder zu hörende Beschwerde ist die, dass die Einführung agiler Arbeitsweisen zu ständigen Konflikten zwischen alter und neuer Arbeitswelt führen würde, oft verbunden mit der Aussage, dass das nicht im Sinn der Sache sein könnte. Sollte es nicht vielmehr so sein, dass in der Agilität alles einfacher wird? Um diese Frage zu beantworten lohnt sich einmal mehr der Blick über den Tellerrand, in diesem Fall in die Soziologie, zu einem Professor namens Aladin El-Mafaalani.


El-Mafalaani ist einer breiteren Öffentlichkeit durch sein im Jahr 2018 erschienenes Buch Das Integrationsparadox bekanntgeworden, in dem er darüber aufklärt warum eine gelungene Integration von Einwanderern in die sie aufnehmenden Gesellschaften nicht zu weniger sondern zu mehr Auseinandersetzungen führt. Die Grundprämisse ist übertragbar: das Zusammenwachsen von zwei sozialen Gruppen führt fast zwangsläufig zu mehr Konflikten - und das ist auch gut so.


Der erste Faktor der zu einer Zunahme der Konflikte führt ist ein fast schon banaler: die Anzahl der Untergruppen in einer Grossgruppe (oder Grossorganisation) erhöht sich wenn neue integriert werden. Denn: Integration bedeutet nicht, dass es zu einer völligen Anpassung der neuen an die alten Gruppen kommt (das wäre Assimilation),1 sondern nur, dass die neuen den Zugang zu den Aufgaben, Wissensquellen und Kommunikationskanälen bekommen, den sie für ihre Arbeit brauchen.


Trotz dieser Integration bleiben viele "Neuankömmlinge"2 weiterhin als solche erkennbar, alleine deshalb weil sie sich in Auftreten und Erscheinung von den "Alteingesessenen" abheben. Das ist zwar in einem Firmenkontext weniger offensichtlich als bei einer Migrationsbewegung, allerdings gibt es auch hier Unterscheidungsmerkmale: Durchschnittsalter, Kleidungsstil und Fachjargon machen erkennbar wer zu welcher Gruppe gehört. Und die eigene Gruppe will man auch repräsentiert sehen.


Sobald die neuen Gruppen (im Unternehmenskontext: die agil arbeitenden Mitarbeiter) sich in die bestehenden Strukturen integriert haben, kommt es daher fast automatisch zu einer Konkurrenz um Ressourcen, Budgets, Sitze in Entscheidungsgremien, Verantwortungsbereiche, Vetorechte, und vieles mehr. Das Übertragen auf die neu arbeitenden Gruppen kann dabei von den alten als Verdrängung empfunden werden, die Verteidigung des Ist-Standes kann wie eine Aussperrung der neuen wirken.


Derartige Konflikte sind nicht ohne eine gewisse Tragik, da in der Regel keine der beiden Gruppen ihn wirklich will. Beide werden von durchaus verständlichen Motiven angetrieben: die neuen Gruppen von dem Wunsch nach Teilhabe und Repräsentation, die alten von dem Wunsch nach der Verteidigung von ihren Errungenschaften, die in der Vergangenheit hart und langwierig erarbeitet werden mussten (siehe dazu auch den Artikel über die Thukydides-Falle).


Bitte kurz Luft holen. Um an dieser Stelle kurz auf eine weiter oben stehende Aussage Bezug zu nehmen - warum soll all das etwas Positives sein? Was ist am fast zwangsläufigen Abrutschen in Konflikte gut? Die Antwort: dort wo Konflikte wie die hier beschriebenen konstruktiv ausgetragen werden führen sie zum Einen zu einer Sichtbarkeit der Diversität und zum Anderen zu einem Wettbewerb der Ideen. Beides sind anzustrebende Entwicklungen.


Hinter der Sichtbarkeit der Diversität verbergen sich gleich zwei mögliche Ausprägungen. Zum Einen werden die neuen Gruppen und ihre Anliegen wahrnehmbarer, und zwar nicht nur in ihrer blossen Existenz sondern auch in ihrem Anspruch das Gesamtsystem mitgestalten zu wollen. Zum Anderen bleiben auch die schon länger vorhandenen Gruppen sichtbar, mitsamt ihrer Wünsche, Bewährtes nicht voreilig und ohne Durchdenken der Konsequenzen zu verwerfen.


Der Wettbewerb der Ideen ist dagegen eine natürliche Folge der Knappheit der zu vergebenden Ressourcen und Positionen. Wer auch immer die haben möchte muss begründen warum die mit ihm verbundene Verwendung die im Vergleich bessere ist. Im besten Fall kommt es dadurch zu einem ständigen Inspect & Adapt und zu einer Tendenz zu MVPs, früh zeigbaren Erfolgen und nachhaltigem Wirtschaften, da all das valide Argumente bei einer Vergabe sind.


Um diesen besten Fall möglichst oft eintreten zu lassen kann eine Firma schliesslich dafür sorgen, dass vergleichbare Ausgangspositionen bestehen. Im Wesentlichen bedeutet das, dass eine willkürliche oder systematische Benachteiligung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit unterbunden wird, so dass alle die gleichen Chancen haben. Zu diesem Zweck kann eine Firma auch auf die gleichen Antidiskriminierungs-Mechanismen zurückgreifen wie eine Gesellschaft.


Am Ende kann das Integrationsparadox in der gerade beschriebenen Weise sogar zu einer Neuwahrnehmung des Konfliktbegriffs führen. Statt Konkurrenz und Verdrängung wird mit ihm dann das gemeinsame, konstruktive Ringen um die beste Lösung verbunden. Und das ist etwas was sich eigentlich jede Organisation und Gesellschaft wünschen sollte.



1Die im Firmenkontext nicht gewollt ist, schliesslich werden die neuen Gruppen ja bewusst wegen ihrer Andersartigkeit geholt.
2Zu denen man sowohl in der Gesellschaft als auch in Organisationen noch nach Jahren gezählt werden kann.

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