Montag, 7. März 2022

Psychologische Sicherheit (II)

Bild: Pexels / Monstera - Lizenz

In der agilen Community (und weit darüber hinaus) ist die psychologische Sicherheit mittlerweile eines der am häufigsten genannten Konzepte die zur Förderung von Feedback- und Fehlerkultur grundlegend sind. In den allermeisten Fällen wird sie auch auf einer abstrakten Ebene richtig beschrieben, es ist die Gewissheit aller Mitglieder einer Gruppe ihre Meinung zu kritischen Themen äussern zu können ohne Angst haben zu müssen persönlich angegriffen oder an den Pranger gestellt zu werden.


Durch welche Faktoren dieser Zustand zustande kommen oder verhindert werden kann wird dagegen bereits seltener thematisiert, und wenn doch dann sehr häufig reduziert auf Verhaltensempfehlungen, sowohl für Mitglieder von Teams als auch für Manager. Um nicht falsch verstanden zu werden, diese meisten dieser Empfehlungen sind gut, sie lassen aber einen wichtigen vorgelagerten Schritt aus - verfügt die Gruppe überhaupt einen Raum in dem sie sich psychologisch sicher austauschen kann?1


Bereits für den Psychologen William A. Kahn, der 1990 in einem seiner Artikel den Begriff zum ersten mal verwendete,2 war dieser Aspekt einer der entscheidenden. Die Möglichkeit sich dorthin zurückzuziehen wo nur diejenigen zuhören und zusehen konnten in deren Anwesenheit die psychologische Sicherheit gegeben ist war für ihn ein zentraler Faktor. Dort wo das nicht möglich war fühlten die Beteiligten seiner Studien sich unsicher und überwacht.


The physical office space starkly symbolized the ways that overstepping the boundaries of expected behavior felt unsafe. Wide open and without walls except for four-foot partitions, the office resembled an open-air maze of public work spaces. There was also a loft that looked like a balcony. The space suggested that people were at once actors and audience. Its openness symbolically placed them on a stage in which they were constantly exposed to the scrutiny of others. There was no backstage, no place in which they could doff all vestiges of role and use their own voices.


Auf die meisten modernen Arbeitsplätze bezogen bedeutet das, dass sie für die Herstellung psychologischer Sicherheit nicht gut geeignet sind. Die von Kahn beschriebenen Grossraumbüros sind heute in grösseren Firmen der Standard, häufig sogar verbunden mit einer Aufhebung fester Arbeitsplätze und mit Meetingräumen die lediglich von Glaswänden umgeben sind.3 Geschützte Teamräume findet man nur in sehr wenigen Unternehmen.


In dieser Hinsicht hat die Verlagerung ins Homeoffice für Verbesserung sorgen können, allerdings sind auch in der Remote-Arbeit unsichere Kommunikations-Situationen häufig. Vor allem Unterhaltungen die in zu grossen oder öffentlich zugänglichen Chatgruppen stattfinden sind anfällig für psychologische Unsicherheit, das Gleiche kann zutreffen für Video-Calls die jederzeit ohne Einladung oder "Anklopfen" betreten werden können, da sich der Link zu ihnen auf öffentlichen Seiten befindet.


Dass die Bekenntnisse zu psychologischer Sicherheit ernst gemeint sind kann man also (unter anderem) daran erkennen, dass es für Teams sowohl physisch als auch digital die Möglichkeit gibt sich in geschützte Räume zurückzuziehen. Umgekehrt ist dort wo es lediglich Grossräum-Büros, gläserne Meetingräume und öffentliche Chats gibt das Konzept entweder noch nicht völlig verstanden worden oder die Bekenntnisse sind nicht so ernst gemeint wie behauptet.


Für die Einführung psychologischer Sicherheit ergibt sich schliesslich, dass die ersten Menschen die sich damit beschäftigen sollten oft nicht die sind von dem man es als erstes annehmen würde. Es sind nicht Manager, HR-Referenten, Agile Coaches oder Chief Culture Officer sondern - der Innenarchitekt und der Tool-Administrator.



1Ein Raum kann in diesem Kontext sowohl ein pysischer Raum sein (z.B. ein Büro) als auch ein digitaler (z.B. ein Chat oder ein Video-Call)
2Häufig wird er auch Amy Edmondson (1999) oder dem Aristotle-Projekt von Google (2016) zugeschrieben, die Veröffentlichung von Kahn war aber deutlich früher
3Was oft noch dazukommt ist, dass diese Räume strukturell überbucht sind und daher nicht kurzfristig zur Verfügung stehen

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