Donnerstag, 6. Januar 2022

Innovations-Durchdringung und Agilität

Grafik: Flickr / Jurgen Appelo - CC BY 2.0

Wenn es darum geht Organisationen auf einen neuen Arbeitsmodus wie z.B. Agilität umzustellen stehen die Vordenker und Pioniere vor dem gleichen Problem das auch aus anderen Change-Vorhaben bekannt ist. Die Gruppe derer die nicht nur zu überzeugen sondern überhaupt mit der neuen Idee bekanntzumachen sind ist riesig, so gross dass sich kaum sagen lässt bei wem angefangen werden sollte. Ein Ansatz diese Zielgruppe zu strukturieren ist das Modell der Innovations-Durchdringung (Diffusion of Innovations). Da es relativ bekannt ist und immer wieder versucht wird es einzusetzen ist es hilfreich es zu kennen, samt seiner Vor- und Nachteile.


Das Modell geht auf die beiden amerikanischen Organisationsforscher Everett Rogers und Geoffrey A. Moore zurück, genauer gesagt auf ihre Bücher Diffusion of Innovations (1962) und Crossing the Chasm (1991). In ihnen wird die Zielgruppe unterteilt in die fünf Untergruppen der Innovatoren (Innovators), der frühen Anwender (early Adopters), der ersten Hälfte der Mehrheit (early Majority), der zweiten Häfte der Mehrheit (late Majority) und der Nachzügler (Laggards). Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Teil-Zielgruppen unterschiedlich gross sind, bei einer Anordnung von links nach rechts eine Glockenkurve bilden (siehe Abbildung oben) und nacheinander zu überzeugen sind.1


Die Akzeptanz und Anwendung von Innovationen "durchdringt" dabei von links nach rechts die einzelnen Teil-Zielgruppen. Dabei wird angenommen, dass auch diese Durchdringung in Phasen abläuft. Auf der Ebene einzelner Personen sind das Kenntnis des Neuen (Knowledge), Überzeugt werden (Persuasion), Zustimmung (Decision), Umsetzung (Implementation) und Erfolgswahrnehmung (Confirmation), auf der Ebene der Teil-Zielgruppen entsprechen dem Themensetzung (Agenda-Setting), Planung (Matching), Einführung (Restructuring), Gewöhnung (Clarifying) und Verinnerlichung (Routinizing). Auf beiden Ebenen sind Rückfälle und Ablehnungen möglich, werden aber in späten Phasen unwahrscheinlicher.1


Der Vorteil des Innovations-Durchdringungs-Modells ist zunächst, dass die zuvor grosse und schwer fassbare Gesamtmenge der zu überzeugenden Menschen sich in besser greifbare kleinere Einheiten unterteilen lässt. Darüber hinaus bieten die Reihenfolge der Gruppen und die beiden Phasenmodelle ein zwar grobes aber universell anwendbares Muster, anhand dessen bestimmt und geplant werden kann welche Werbe- oder Change Management-Massnahme auf welche Gruppe anzuwenden ist (was in der Detail-Umsetzung je nach Gruppe und Phase sehr unterschiedlich gestaltet werden kann und muss). Vereinfacht gesagt: Mustererkennung und Massnahmenplanung werden einfacher.


Der Nachteil des Modells liegt darin, dass es für die Einführung von Produkt-Neuheiten entwickelt wurde und nicht für die Einführung von Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen. Infolgedessen geht es von eher binären Entscheidungen aus: man bleibt bei der Handwäsche oder steigt auf die Waschmaschine um, man bleibt beim Tastentelefon oder kauft sich ein Smartphone, etc. etc. Die Übernahme neuer Arbeitsweisen ist dagegen eher vielschichtig: man kann sie z.B. abstrakt verstanden haben aber noch nicht wissen wie sie umzusetzen sind oder sie mechanisch durchführen ohne den Sinn dahinter zu erkennen. Die eindeutige Zuordnung zu den Gruppen oder Phasen funktioniert so nicht mehr.


Noch unklarer wird es im Fall agiler Transitionen, da hier verschiedene Teilbereiche zusammenkommen die zwar erst zusammengenommen einen Sinn ergeben, die aber separat angeeignet werden können. Naheliegende Beispiele dafür sind Selbstorganisation im Team, (technische) Releasefähigkeit in kurzen Abständen, Produkt- und Domänenverständnis und Kundenorientierung. Tatsächlich ist es in Umbruchphasen häufig so, dass diese Teile über einen längeren Zeitraum unterschiedlich stark ausgebildet sind und erst nach und nach alle ein hohes Level erreichen.2 Auch das erschwert die im Modell vorgesehene eindeutige Zuweisung.


Und selbst wenn irgendwann alle Teilgruppen alle Veränderungsphasen durchlaufen haben kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Status Bestand hat. Der Versuch erfolgreich agil arbeitende Einheiten durch Skalierung zu vergrössern oder auf ein gemeinsames Ziel auszurichten kann zu Bürokratie und Erstarrung führen, technische Schulden können die Releasefähigkeit untergraben und über längere Zeit stabile Teams können verengte Weltsicht und Konformitätsdruck entwickeln. Eine Folge davon kann z.B. sein, dass Innovatoren in frühe Entwicklungsphasen zurückrutschen und dann sogar schlechter dastehen als die Nachzügler. Die Innovations-Durchdringung ist damit ausgehebelt.


Heisst das, dass dieses Modell für agile Transformationsvorhaben völlig unbrauchbar ist? Natürlich nicht, im Gegenteil: das Herunterbrechen (zu) großer Vorhaben in kleine, handhabbare und separat abschliessbare Arbeitspakete passt hervorragend zu agilem Arbeiten. Was aber nicht funktionieren wird ist der Versuch Personen oder Gruppen fix oder auch nur längere Zeit in Gruppen oder Phasen einzuordnen oder sogar Fortschrittsstände daraus abzuleiten (z.B. "Wir haben jetzt die Innovatoren und die frühen Anwender überzeugt, als nächstes gehen wir die erste Hälfte der Mehrheit an."). Das wird fast zwangsläufig in Missverständnissen und Scheinerfolgen enden, mit bösen Überraschungen als Folge.


Zusammengefasst: in der Produktentwicklung und -vermarktung hat das Innovations-Durchdringungs-Modell seine Berechtigung, auf die Einführung von Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen lässt es sich aber nur sehr eingeschränkt übertragen. Inspirieren lassen kann man sich davon, man sollte sich aber seiner Limitierungen bewusst sein.



1Natürlich ist das eine verkürzte Darstellung, wie die Gruppen, ihre Grösse und die Change-Phasen zustandekommen lässt sich in den beiden Büchern nachlesen
2Vorausgesetzt die agile Transition verläuft erfolgreich

Related Articles