Donnerstag, 11. November 2021

10 Jahre #NoEstimates (I)

Bild: Pixabay / Geralt - Lizenz

Die vermutlich kontroverseste unter den agilen Bewegungen hat Geburtstag: #NoEstimates (übersetzbar mit #KeineAufwandsschätzungen) wird 10 Jahre alt. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung ist sie noch immer weit davon entfernt im Mainstream angekommen zu sein und wird das vermutlich auch in absehbarer Zeit nicht. Trotzdem hat sie leidenschaftliche Anhänger, so dass davon auszugehen ist, dass sie in ihrer Nische noch lange weiterbestehen wird.


Um diese Bewegung besser zu verstehen muss man sich eines bewusst machen: trotz ihres Namens wendet sie sich nicht explizit gegen Aufwandsschätzungen, lediglich gegen solche in Vorhaben die so sich so unvorhersehbar entwickeln, dass es sich nicht mehr um Schätzungen sondern um wildes Herumraten handelt. Woody Zuill, der Schöpfer von #Noestimates bezeichnete das im November 2011 in seinem ersten Artikel zu diesem Thema als "Wild Ass Guessing" (WAG), was inhaltlich deckungsgleich ist.


Um das plastischer zu machen: es gibt tatsächlich Vorhaben in denen derartige Rahmenbedingungen vorliegen, dass realistische Schätzungen nahezu unmöglich sind. Ein Beispiel wäre die Entwicklung eines neuartigen Online-Produkts bei dem nur die intensiv genutzten neuen Features weiterentwickelt, die weniger genutzten aber ausgebaut werden. Ein anderes, später von Zuill selbst erwähntes wäre die Reparatur eines uralten Systems mit hunderten von Bugs.


Jeder Versuch diese oder ähnliche Projekte mit Aufwandsschätzungen zu versehen würde lediglich in einem Haufen Datenmüll enden, da die Wissensgrundlage auf der die Aufwandsschätzungen stattfinden ständig wegbricht und sich in veränderter Form neubildet. Verhindern lässt sich das nicht, schliesslich lassen sich weder die Nutzungsintensität eines noch nicht gebauten Features noch der Reparaturaufwand eines noch nicht genau analysierten Bugs voraussagen. Und derartige Beispiele gibt es viele.


Es ist aber nicht nur so, dass Aufwandsschätzungen in solchen Fällen keinen Mehrwert bringen, sie können sogar schädliche Auswirkungen haben. Am offensichtlichsten dadurch, dass die für sie aufgewendete Zeit nicht mehr in die Umsetzung fliessen kann, aber auch durch zunehmenden Verwaltungsaufwand - verfehlte Schätzungen führen in vielen Organisationen zu Korrekturversuchen in Form von noch mehr Reporting und Planung, was nochmal mehr Arbeitszeit bindet.


Zielführender ist es in einem solchen Szenario einfach so lange weiterzuarbeiten bis das Ziel erreicht ist, etwa dann wenn die Interaktions- oder Zahlungsbereitschaft der Kunden ausgeschöpft ist (im Fall einer volatilen Produktentwicklung) oder dann wenn alle Bugs und Performanceprobleme der kritischen Systeme behoben sind (im Fall der Reparaturarbeiten am Altsystem). Natürlich nur im Rahmen eines verfügbaren Budgets, das aber bis zur Zielerreichung immer wieder verlängert werden kann.


Die Moral der Geschichte ist also, dass es bestimmte Vorhaben gibt in denen Aufwandsschätzung keinen Mehrwert bringen und stattdessen das Potential haben Schaden anzurichten, weshalb man sie besser ganz lassen sollte. Allerdings ist das nur der eine Teil von #NoEstimates, der andere ist (Überraschung!) eine Methode zur Schätzung von Aufwänden. Das ist nochmal eine eigene Geschichte und geht auch nicht mehr auf Zuill zurück, mehr dazu im bald folgenden Teil II (hier ist er).



PS: Natürlich gibt es noch eine andere, destruktive Art von "No Estimates", bei der es sich um die Verweigerung aller Aufwandsschätzungen handelt, also auch dann wenn sie möglich oder sinnvoll wären. Zur Abgrenzung davon erfolgt die Schreibweise seit 2012 in einem Wort und mit Hashtag.



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