Montag, 20. September 2021

The agile Bookshelf: Escaping the Build Trap

Bild: CCNull / Tim Reckmann - CC BY 2.0

Es gibt Bücher, deren Autor ein seltenes Kunststück fertigbringen: schon nach wenigen Seiten hat man das Gefühl, dass die Kernbotschaft übermittelt wurde und eigentlich kaum noch ein relevanter Mehrwert kommen kann, aber wenn man doch weiterliest wird man postitiv überrascht, erhält zusätzlichen Wissensgewinn und wertvolle Impulse. Melissa Perri's Erstwerk Escaping the Build Trap gehört in diese bemerkenswerte Kategorie.


Dass früh der Eindruck aufkommt, dass schon alles Pulver verschossen sein könnte, liegt daran, dass bereits im Vorwort abschliessend erklärt wird was die "Build Trap" ist - das im Akkord stattfindende Einbauen immer neuer Features in ein Produkt, ohne zu überprüfen ob diese von den Anwendern gewünscht oder benutzt werden. Auch der verdeutlichende Erfahrungsbericht (der natürlich einen die Botschaft unterstreichenden Aha-Effekt enthält) findet sich bereits hier.


Einen Hinweis darauf, warum dieser merkwürdig frühe Kulminationspunkt gewählt wurde, liefert Perri in der Einleitung selbst: insgesamt dreimal hat sie ihr Werk vor der Veröffentlichung überarbeitet und dabei jedesmal den Focus geweitet - von der in der "Produktionsfalle" feststeckenden urprünglichen Zielgruppe (den einzelnen Produktmanagern) über immer grössere Einheiten bis zuletzt zu einem Gesamtblick auf ganze Firmen. Der Titel und die frühe Auflösung dürften noch Teil der ersten Version sein.


In der veröffentlichten Fassung1 wird auch über die Build Trap hinaus das ganz grosse Bild des Produktmanagements gezeichnet, angefangen von der Frage, was überhaupt ein Produkt ist, über die Produktvision, die Produktstrategie, die produkterzeugende Organisation (und deren idealen Aufbau), die Budgetierung, die Rolle und die Karrierepfade des Produktmanagers und die Erfolgsmessungen, bis hin zu den Lern- und Erkenntnisprozessen und zahlreichen anderen Themen.


Dass das Buch den Anspruch verfolgt, für alle Karriere- und Erfahrungsstufen geeignet zu sein, merkt man ihm manchmal an,2 zumindest wenn man selbst bereits einige Erfahrungen mitbringt und daher einen Teil der beschriebenen Inhalte bereits kennt, es entsteht aber dadurch ein stimmiges Gesamtbild, das Einsteigern eine gute Orientierung über alle relevanten Themengebiete ermöglicht und erfahrenen Produktmanagern vieles wieder in Erinnerung rufen dürfte.


Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass Perri sich (z.T. explizit, z.T. unterschwellig) an den dominierenden agilen Frameworks Scrum und SAFe, bzw. an deren Rollen des Scrum-Product Owners, des SAFe-Product Owners und SAFe-Product Managers abarbeitet. Unter anderem kritisiert sie die häufige Besetzung der Product Owner mit relativ unerfahrenen Personen und die Entkoppelung von Team-orientierten und Kunden-orientierten Rollen in SAFe. Man kann ihr da nur zustimmen.


Ungeachtet dessen lässt sie aber keinen Zweifel daran, dass sie eine Befürworterin der agilen Produktentwicklung ist und betont auch ihren eigenen Lean Startup-Hintergrund. Die Aussagen von Escaping the Build Trap sind daher gut mit den gängigen agilen Frameworks (ausser SAFe) vereinbar, so dass man allen derartig arbeitenden Menschen das Lesen bedenkenlos empfehlen kann, gerade als Ergänzung zu der häufig dominierenden Prozess- oder Technologie-Sicht.


Etwas kurios (aber nicht weiter störend) ist die in unregelmässigen Abständen auftauchende fiktive Firma Marquetly, der Melissa Perri in verschiedenen fiktiven Erlebnisberichten hilft, ihr Produktmanagement zu optimieren. Vermutlich war eine der früheren Fassungen des Buches in Romanform verfasst, vergleichbar mit Gene Kim's Phoenix Project, was dann durch die weiter oben erwähnten Überarbeitungen in den Hintergrund getreten ist.


Zuletzt bietet das Buch in seinem letzten Kapitel auch eine praktische Hilfe für die Selbsteinschätzung. Mit einem kurzen Fragenkatalog und einer Erläuterung der passenden Antworten kann jeder selbst überprüfen wie produktorientiert seine Firma ist, bzw. ob sie in der Build Trap feststeckt. Ist das letzte der Fall, kann es ein guter nächster Schritt sein, allen Entscheidungsträgern dieses Buch zu empfehlen.


1Genauer gesagt in der zweiten Auflage, auf der diese Besprechung beruht
2Perri schreibt selbst, dass sie das beabsichtigt

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