Kommentierte Links (LXXVIV)
Das Internet ist voll von Menschen die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.
Dieser Artikel ist auf mehreren Ebenen interessant. Zunächst deshalb weil er (allerdings basierend auf einer relativ kleinen empirischen Basis) belegt was immer wieder kolportiert wird: die grossen amerikanischen Tech-Firmen wie Google, Amazon und Netflix haben kaum Teams die nach einem der gängigen agilen Frameworks (v.a. Scrum) organisiert sind. Nicht etwa weil sie nicht agil arbeiten, ganz im Gegenteil. Die Agilität äussert sich hier aber anders - u.a. durch flache Hierarchien oberhalb der Teams, enge Verzahnung von IT und Business, Verzicht auf hauptberufliche Projektmanager, technische Exzellenz und hohen Automatisierungsgrad. Die zweite interessante Ebene ist eine drastische Fehlinterpretation von Scrum, in der man nur am Sprintende auf Produktion releasen darf, mit dem Product Owner als verlangsamendem Flaschenhals. Durch Kombination der beiden Aspekte erklärt sich die Scrum-Aversion im "Big Tech": wenn Scrum bürokratisch und schwergewichtig interpretiert wird und gleichzeitig eine Unternehmens- und Technologie-Struktur gegeben ist die auch "normalen" Teams Framework-unabhängige Agilität ermöglicht, dann ist es fast zwangsläufig, dass niemand nach Scrum arbeiten möchte. Spannend wäre es zu erfahren woher die Fehlinterpretation kommt.
Weiter geht es mit einer Studie die eine etwas grössere empirische Basis hat. Dieser Artikel aus dem Magazin
Nature Human Behaviour basiert auf der Auswertung der Arbeit von 61.000 Microsoft-Angestellten aus dem Jahr 2020 und zeichnet einmal mehr das
Remote-Produktivitäts-Paradox nach. Durch den Wegfall von Pendelzeiten und Ablenkungen ging der Anteil der "persönlichen Produktivität" an der gesamten Arbeitszeit hoch, gleichzeitig führte das Fehlen der täglichen Begegnung (in Kantine, Aufzug, o.Ä.) aber dazu, dass sich die sozialen Netzwerke in der Firma zurückbildeten. Infolge dessen wurde es immer schwieriger zu erkennen an wen man sich bei Informationsbedarf oder Abhängigkeiten zu anderen Organisationseinheiten zu wenden hatte, die Kommunikation wurde ineffizient und ineffektiv, die Gesamtproduktivität der Firma ging zurück. Es ist zu hoffen, dass diese Untersuchung in eine langlaufende Vergleichsstudie zwischen Präsenz- und Remote-Teams überführt wird (und noch weitere stattfinden). Damit würde es möglich die bisher sehr stark von Vermutungen und Glaubenssätzen ausgehende Diskussion um die Folgen der Remote-Arbeit zu versachlichen.
Jurgen Appelo hat sich bereits einige Methoden-Mashups einfallen lassen, z.B. den
Innovation Vortex oder den
Change Dynamo. Seine neueste Schöpfung sind die
"flOwKRs", in die er nicht nur Flow (Kanban) und Objectives and Key Results (OKRs) sondern auch Management by Objectives (MBO), Key Performance Indicators (KPIs), SMART-Kriterien, North Star Metric (NSM), Big Hairy Audacious Goals (BHAG), Evidence-Based Management (EBM) und Fitness for Purpose (F4P) integriert hat. Wie bei seinen anderen jüngeren Ideen ist auch hier eine Nacherzählung oder Zusammenfassung schwierig, nicht nur wegen der inhaltlichen Vielschichtigkeit sondern auch weil das Ganze einen Teil seines Charmes durch die im Text eingebetteten schreiend bunten Visualisierungen gewinnt. Es empfiehlt sich daher ein Blick auf den Originaltext, aus dem man reichlich Inspiration gewinnen kann.
Apropos Mashups - die These die Tim Theman hier aufstellt ist eine die ich voll unterstützen kann: dass es gerade im Rahmen von Remote-Arbeit bei vielen Meetings extrem schwer zu entscheiden ist, ob sie wirklich als solche stattfinden oder in asynchrone (schriftliche) Kommunikation überführt werden sollten, liegt daran, dass sie meistens so verschiedene Themen umfassen, dass für diese auch verschiedene Durchführungsformen sinnvoll sind. Sobald das einmal als Problem erkannt ist liegt auch die Lösung auf der Hand - statt zu versuchen alle Inhalte in ein und das selbe Format zu pressen kann man sie auch aufteilen und unterschiedlich behandeln, z.B. mit Newslettern für allgemeine Informationen, Online-Foren für Verständnisfragen und Meetings (bzw. Video-Calls) für Diskussionen. Meine persönliche These ist, dass es ein noch tiefer liegendes Grundproblem gibt: durch die gut gemeinte Absicht möglichst viel Zeit für die "richtige Arbeit" zu haben richten viele Teams und Unternehmen nur wenige Sammeltermine für Meetings ein, z.B. eine einzige wöchentliche Team- oder Abteilungsrunde. Dass es in denen dann inhaltlich durcheinandergeht ist klar. Was in solchen Situationen als Lösung sinnvoll ist (und im hier verlinkten Artikel aufgegriffen wird) ist eine "Entklumpung" der Themen, ggf. verbunden mit den erwähnten jeweils angepassten Arten der Durchführung.
Zum Abschluss ein Abschied. Selbst in der oft titelfixierten Welt der Grossorganisationen dürfte die Berufsbezeichnung von Nicolas Chaillan Aufsehen erregt haben - er ist
"First U.S. Air Force and Space Force Chief Software Officer". Ebenfalls Aufsehen erregend ist der Grund für seinen Abschiedsbrief: es ist das permanente Ausbremsen und Kaputtsparen von agiler Softwareentwicklung in der amerikanischen Militär-IT. Selbst wenn dieses Umfeld einzigartig ist, die Probleme die er mit bemerkenswerter Offenheit anspricht sind es nicht. Eine lesenswerte Auflistung von Hindernissen mit denen sehr viele agile Transitionen zu kämpfen haben.