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Mit dem Begriff Industrie 4.0 geht es mir vermutlich so wie anderen Leuten mit dem Begriff Agil - ich ahne, dass eine grundsätzlich gute Idee dahintersteckt, nehme aber vor allem Buzzwords wahr. Um so dankbarer bin ich, dass die beiden Erfinder sich zum zehnjährigen Jubiläum des initialen Artikels
Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution die Zeit genommen haben noch einmal aufzuschreiben was genau ihre Intention war. Die zwei zentralen Aussagen sind dabei
"Die Vernetzung von Menschen, intelligenten Objekten und Maschinen, die Nutzung serviceorientierter Architekturen, die Komposition von Diensten und Daten aus unterschiedlichen Quellen zu neuen Geschäftsprozessen" und
"Eine besseren und sinnvolleren Mensch-Maschine-Kooperation ohne Angst vor Kontrollverlust". Noch immer leicht sperrige Sätze, aber solche die man voll unterschreiben kann.
Mit diesem Artikel haben Clanton und Walters ihre Serie
The Seven Domains of Transformation zu einem würdigen Höhepunkt und Ende geführt. Das was sie hier über Incentivierung, Fehler- und Lernkultur, Lern- und Austauschformate und zu überwindende alte Gewohnheiten schreiben ist zwar nicht grundlegend neu, es fasst aber viele gute Ideen und bewährte Konzepte gut lesbar zusammen. Auch der häufige Gegensatz von "Bottom up-" und "Top Down"-Initiativen im Change Management wird angesprochen, mit der originellen aber in der Umsetzung anspruchsvollen Lösung, dass dabei das (überzeugende) Zielbild von oben vorzugeben ist, die Umsetzung aber von unten zu erfolgen hat. Insgesamt ein guter Impuls nicht nur zum selber Lesen sondern auch zum Weitergeben an alle Führungskräfte.
Die Frage mit welchen Mitarbeitern man ein agiles Pionier-, Transformations- oder Vorzeigeteam besetzen sollte ist einer der grossen Klassiker wenn Unternehmen ihre Strukturen und Prozesse beweglicher machen wollen. Rob Cross, Heidi K. Gardner und Alia Crocker haben dazu einige lesenswerte Gedanken zusammengefasst, darunter auch solche die der gängigen Mehrheitsmeinung widersprechen. Dass derartige Teams nicht ausschliesslich aus zu hundert Prozent verfügbaren Personen zusammengesetzt werden sollten erscheint zum Beispiel zuerst widersinnig, wenn man bedenkt, dass die besten Leute aber (zumindest zu Beginn) nicht ganz zu haben sein werden macht es durchaus Sinn. Ein kleiner Zusatz-Ratschlag: der Artikel erhält ausklappbare Textboxen - auch die sind durchaus einen näheren Blick wert.
Die Lösung die sich Rajiv Prabhakar überlegt hat könnte man auch mit einem Wort zusammenfassen: Refactoring. Sein Text geht allerdings auf verschiedene Details vertieft ein, so dass es trotzdem Sinn macht ihn zu lesen. Zum Einen gibt er anschauliche Beispiele dafür wie "Software Rot" entsteht (btw: gibt es dafür nicht eine bessere Übersetzung als "Softwareverrottung"?) und mit welchen Kosten und Risiken sie verbunden ist, zum Anderen hat er einen durchaus kontroversen Lösungsvorschlag: in bestehenden Systemen sollte permanent irgendetwas verändert werden, selbst wenn es dafür keine fachliche oder technische Notwendigkeit gibt. Der Grund dafür es trotzdem zu tun ist der, dass dadurch im
kollektiven Gedächtnis der Organisation das für Erhaltung und Betrieb relevante Wissen ständig aufgefrischt wird. Das wirklich Verrückte daran ist aber nicht seine Idee selbst - es ist die Vermutung, dass das tatsächlich die insgesamt wirtschaftlichste Lösung sein könnte.
Ein Beitrag der Vieles in sich vereint. Eine traurige Bestandsaufnahme grosser Transformationsforhaben, einen Seitenhieb gegen SAFe, einen Aufruf zur Subversivität, Plädoyers für Transparenz und Datengetriebenheit, ein Hoffnung machendes Praxisbeispiel und einen Ausblick in eine bessere Zukunft. Da sollte für jeden etwas dabei sein.