The Hammer and the Dance
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Wenn sich Organisationen auf die Reise in Richtung Agilität begeben ist es fast zwangsläufig, dass sie früher oder später mit der Fragestellung konfrontiert werden wie disruptiv dieser Wandel sein soll. Sollen wenige, tiefgreifende Änderungen in kurzer Zeit durchgeführt werden oder machen viele kleine. über längere Zeit gestreckte Anpassungen mehr Sinn?
Die auf den ersten Blick unbefriedigende Antwort lautet, dass beides richtig ist, je nach Kontext. Das ist zwar zutreffend, hilft aber nicht wirklich weiter und muss daher konkretisiert werden. Ein Ansatz mit dem man dabei arbeiten kann (einer von vielen, es gibt hier keine absolute Wahrheit) trägt den poetischen Namen "The Hammer and the Dance". Er kann tatsächlich helfen, allerdings bedarf es zuvor einiger kurzer Erläuterungen.
Ein stark disruptiver (revolutionärer) Ansatz besteht aus starken Umwälzungen. Organisatorische und personelle Umstrukturierungen gehören dazu, auch Intensiv-Trainings aller Mitarbeiter oder Verkauf/Abschaffung und Neukauf/Neubau von Anlagen, Systemen und Gebäuden. Der Vorteil an diesem Vorgehen ist, dass in kurzer Zeit viel bewegt werden kann, der Nachteil, dass bei den davon Betroffenen Ängste und Widerstände ausgelöst werden können.
Ein wenig disruptiver (evolutionärer) Ansatz besteht dagegen aus einem behutsamen, schrittweisen, einladungs-basierten Veränderungsprozess, der sich auf kleine und überschaubare (Teil-)Schritte konzentriert und von denen auch nicht zu viele gleichzeitig stattfinden lässt. Die Ergebnisse können die selben sein wie beim stark disruptiven Ansatz, die Ängste und Widerstände sind aber erfahrungsgemäss deutlich geringer. Der Nachteil ist, dass dafür viel Zeit nötig sein kann, was in dringlichen Situationen ein Problem ist.
Der Hammer and Dance-Ansatz versucht Beides zu verbinden. Entwickelt im Jahr 2020 zur Bekämpfung der Covid19-Pandemie geht er davon aus, dass es sinnvoll ist abwechselnde Phasen starker und behutsamer Eingriffe zu haben, die er als "Hammer" und "Tanz" bezeichnet. Welche dieser Vorgehensweisen als nächstes angewandt wird muss dabei von der aktuellen Situation abhängen (mehr zu Hammer and Dance in der Covid19-Bekämpfung hier und hier).
Aus Sicht eines "Agilisten" ist dieses Vorgehensmodell vor allem deshalb naheliegend weil es evidenzbasiert ist. Im ursprünglichen Kontext der Pandemiebekämpfung bedeutet das (vereinfacht gesagt), dass das Überschreiten bestimmter Infektions-Grenzwerte zu starken Eingriffen führt, die dann wieder zu behutsamen Eingriffen zurückgefahren werden wenn die Grenzwerte wieder unterschritten werden und über einen definierten Zeitraum niedrig bleiben.
Um eine Übertragung auf den Kontext einer agilen Transition vorzunehmen müsste damnach in einem ersten Schritt definiert werden welches die relevanten Werte sind die gemessen werden sollen. Das können die klassischen Zahlen aus datengetriebenen Retrospektiven sein, wie Lead Time, Cycle Time, Durchsatz, WIP-Menge oder Bug-Rate, aber auch Devops-Metriken wie Deployment Frequency, Recovery Time, Automation Rate oder System Availability.
In einem zweiten Schritt sollten die jeweiligen Grenzwerte definiert werden. Wichtig ist dabei, dass diese keinen Idealzustand darstellen dürfen. Auch unterhalb der Grenzwerte kann (und und darf) es zu suboptimalen Metriken kommen, allerdings sollte das mit kleinen, dezentralen Massnahmen behebbar sein, etwa mit Training on the Job oder durch allmähliches Refactoring nur der Systemkomponenten an denen gerade ohnehin gearbeitet wird.
In dieser Vorgehenslogik werden am Anfang der meisten agilen Transitionen einige grosse Massnahmen stehen. Wenn sich zwischen den organisatorischen Silos die Arbeit staut müssen diese neu zugeschnitten oder zusammengelegt werden, wenn Systeme ständig ausfallen muss Zeit in ihre Stabilisierung investiert werden, zu viele parallele Arbeit kann durch die Begrenzung gleichzeitig begonnener Projekte und Initiativen zurückgefahren werden, etc.
Sobald durch diese Massnahmen ein Unterschreiten der Grenzwerte stattgefunden hat kann die Verantwortung für das weitere Vorgehen dezentralisiert und auf die unteren Organisationsebenen verlagert werden. Welche der im vorletzten Absatz genannten (oder anderen) Massnahmen dort ergriffen werden sollte in der Verantwortung des jeweiligen Einheit bleiben - bis die Grenzwerte nicht wieder nach oben überschritten werden, dann müssen erneut stärkere Massnahmen erwogen werden.
Neben der Evidenzbasierung hat das Hammer and Dance-Modell noch weitere Aspekte die zu einem agilen Zielbild passen, als wichtigste seien hier die Subsidiarität und das kontinuierliche Inspect & Adapt genannt. Zu den Risiken gehört, dass in den Hammer-Phasen Selbstorganisations-Strukturen beschädigt werden und die Grenzwerte zum Setzen unrealistischer "ambitionierter Ziele" genutzt werden können. Solange die Ziele der Transformation klar formuliert sind kann man daran aber arbeiten
Zuletzt noch eine Frage die vielleicht dem einen oder anderen Leser im Kopf herumschwirrt: ist "The Hammer and the Dance" denn wirklich in irgendeinem Transformationsvorhaben im Einsatz? Die Antwort: ja, ist es. Zwar nicht unter diesem Namen, nicht immer mit der nötigen Klarheit und nicht mit explizitem Bezug auf das 2020 entwickelte Pandemiebekämpfungs-Modell, aber die Art des Vorgehens findet man immer wieder. Vielleicht wäre es Zeit ihm zur besseren Kommunizierbarkeit einen Namen zu geben. Warum nicht diesen?