Agile Manufacturing
Bild: Wikimedia Commons / Ron Clausen - CC BY-SA 4.0 |
Man kann sich das Erstaunen vorstellen mit dem am Anfang auf dieses "agile Arbeiten" reagiert wurde. Kleine, selbstorganisierte Teams, flache Hierarchien, direkte Kommunikation und reaktive, datengetriebene Verbesserungsprozesse passten auf den ersten Blick so gar nicht zu den bewährten Strukturen. Aber sobald die Effektivitätsgewinne sichtbar waren gab es kein Halten mehr - sogar grosse Traditionskonzerne wollten plötzlich agil sein, an Hochschulen wurde zu dem Thema gelehrt und publiziert und selbst die staatliche Wirtschaftsförderung sah in Agilität die Zukunft der Wirtschaft.
Jetzt zur Preisfrage: wann haben sich die hier beschriebenen Ereignisse zugetragen? Ab 2001, nach dem Verfassen des Agilen Manifests? Ab 2011, nachdem mit SAFe und LeSS die ersten Skalierungsframeworks entstanden sind? Oder zu einer ganz anderen Zeit? Die überraschende Antwort ist die dritte - der Trend setzte deutlich früher ein, nämlich ca. 1990. Und noch überraschender: der Anwendungsschwerpunkt war (noch) nicht die IT sondern die Fertigungsindustrie, in der "Agile Manufacturing" betrieben wurde. Kaum jemand weiss von dieser erste Blütezeit der Agilität, und doch hat sie existiert und es selbst in namhafte Medien wie die New York Times, den Chicago Tribune und das MIT Sloan Review geschafft.
Was aus diesen Artikeln hervorgeht ist eine erstaunlich grosse Verbreitung. Unter anderem haben Ford, Motorola, Boeing, Apple, Siemens, IBM, General Motors, General Electric, Goodyear und Chrysler in ihren Fabriken agil gearbeitet, das amerikanische Verteidigungsministerium hat diese Arbeitsweise zum Bestandteil von Ausschreibungen gemacht und an Universitäten sind ganze Forschungsinstitute entstanden die sich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Sogar die staatlichen Wirtschaftsförderungen in Amerika, der europäischen Union und Japan scheinen das Konzept gekannt und gefördert zu haben.
Auch inhaltlich entsprach der Begriff der Agilität schon weitgehend dem was wir heute darunter verstehen. Die Berichte beschreiben zwar auch einiges was man heute eher in die Konzepte der Lieferketten-Optimierung, des Lean Management und der Digitalisierung einordnen würde, die übergreifende Idee ist aber die, die bis heute aktuell ist: Agilität als die Fähigkeit schnell und mit wenigen Reibungsverlusten auf sich ändernde Rahmenbedingungen zu reagieren. Und Umsetzungs-Elemente wie Teams von maximal 10 Mitgliedern und die Nutzung von Monitoring-Ergebnissen zur Prognostizierung von Wartungsbedarf könnten so auch aus Scrum und DevOps kommen.
Angesichts dieser scheinbaren Kontinuität ist es um so erstaunlicher, dass die Verwendung des Namens Agile Manufacturing Ende der 90er Jahre scheinbar aufgegeben wurde. Ab ca dem Jahr 2000 sind kaum noch Veröffentlichungen und Medienberichte zu finden, in der jüngeren Vergangenheit gar keine mehr. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vielleicht wurde Agilität durch das agile Manifest nur noch als IT-Idee wahrgenommen, vielleicht wurde sie in der Fertigungsindustrie nach einer zu starken Hype-Phase als Mode-Phänomen verworfen, vielleicht wurden die Prinzipien und Praktiken aber auch so sehr zur Normalität, dass sie keinen Namen mehr brauchten. Man weiss es nicht.
Was heute aufgrund dieses damals stattgefundenen "kollektiven Anmesie-Vorfalls" zu beobachten ist, ist jedenfalls vor dem Hintergrund der Geschichte hoch paradox - jedesmal wenn eine der alle paar Jahre wiederkehrenden Initiativen durch die Unternehmen läuft, dass doch auch die Hardware-Fertigung agile Vorgehensweisen übernehmen könnte, wird dem an vielen Stellen mit Skepsis begegnet. Es wäre doch gar nicht klar ob ein "so neumodischer" und "aus der IT kommender" Ansatz sich hier umsetzen liesse. Dass in Fabriken bereits agil gearbeitet wurde als in der IT noch niemand diesen Begriff benutzte überrascht dann fast jeden der davon hört.
Zwar braucht es die "historische Untermauerung" nicht um in diesen Diskussionen die Vorteile der agilen Frameworks herauszustreichen, die sprechen bereits ausreichend für sich. Das was man aber machen könnte ist, die Ereignisse der 90er Jahre für die begleitende Kommunikation zu nutzen. "Take agile back to the roots", "Agile is coming home" oder "Don't follow the hypes, stick to Agile Manufacturing" wären doch grossartige Kampagnen-Slogans, oder?.