Freitag, 11. September 2020

Sense of Urgency (II)

Bild: Pixabay / Sasint - Lizenz

Einige weitere Gedanken zum Sense of Urgency. Zuerst noch einmal kurz zusammengefasst: es handelt sich bei ihm um eine Wahrnehmung von unmittelbarem Handlungsdruck, beruhend auf sich anbahnenden deutlichen Verschlechterungen bei Nichtstun, und das in einem sehr engen Zeithorizont. Für Veränderungsbemühungen eine ideale Ausgangslage, da nicht mehr diskutiert werden muss ob sich etwas verändern muss sondern nur noch was und wie.


Beruhend darauf geht das klassische Change Management davon aus, das der Sense of Urgency für die Beteiligten und Betroffenen spürbar gemacht werden muss bevor die Veränderungen beginnen. John Kotter (auf dessen Buch der Begriff in seiner heutigen Form zurückgeht) rät z.B. das zu tun indem verfehlte Ziele, unzufriedene Kundenstimmen, frustrierende Mitarbeiter-Erlebnisse, schlechte Zahlen und drohende Konsequenzen öffentlich gemacht werden. Wie das in einem konkreten Fall aussehen kann zeigt anschaulich diese Grafik:



Die Tendenz in diesem Bild ist so offensichtlich, dass der Sense of Urgency den die Besitzer und Mitarbeiter des National Enquirer gerade fühlen dürften sofort nachvollziehbar ist - wenn sich hier nicht sehr schnell und sehr radikal etwas ändert wird von der Auflage dieser Zeitschrift bald nichts mehr übrig sein und sie wird nach fast hundert Jahren aufhören zu existieren. Man kann davon ausgehen, dass beide Seiten zu Anstrengungen und Opfern bereit sein werden.


Auch die umgekehrte Situation ist allerdings immer wieder zu betrachten, dann nämlich wenn das offensichtliche Fehlen einer Notlage dazu führt, dass kein Sense of Urgency entsteht. Ein Beispiel dafür wären etwa die jahrelangen Versuche die Deutsche Bahn zu reformieren. Als staatliche Infrastruktur-Einrichtung waren fehlende Gewinne hier weder ungewöhnlich noch existenzbedrohend, gleichzeitig befand sich die Nachfrage auf einem Höchststand. Viele der Grafiken sahen demnach so aus:

 

Grafik: Wikimedia Commons / MCMC - CC BY-SA 4.0


Auch bei diesem Bild sind die Reaktionen auf Veränderungsprogramme einfach zu erraten, selbst wenn sie diesesmal in eine andere Richtung gehen. Hier soll es einen dringenden Veränderungsbedarf geben, obwohl die Zahlen erkennbar nach oben gehen? Das ist kaum zu vermitteln. Die Change-Programme waren daher eher von Skepsis und Ablehnung begleitet.


Um eine sich daraus ableitende naheliegende Frage zu nennen - heisst das, dass es bei (scheinbar) gut oder zumindest ohne drängende Probleme dastehenden Unternehmen keine Änderungen geben kann? Natürlich nicht, strategische Ziele oder langfristige Herausforderungen können das trotzdem nötig machen. Aber: auf eine Unterstützung durch einen Sense of Urgency (bzw. durch die Menschen die ihn spüren) darf man hier nicht hoffen, es muss auch ohne ihn gehen.


Das Risiko das jetzt auftreten kann ist, dass die mit dem Change befassten Menschen in eine Methodismus-Falle laufen. Statt andere Modelle (etwa Deutschmanns Relate, Repeat, Reframe) zu erwägen wird versucht den Sense of Urgency künstlich zu erzeugen, etwa durch ständige Brandreden, künstliche Deadlines und Ähnliches. Allerdings - was so entsteht ist eher ein "Sense of Harassment", also das Gefühl belästigt zu werden.


Hier wird es dann gleichermassen tragisch wie ironisch. Bei sachgemässer Anwendung von Kotters Methoden würde sich in solchen Situationen nämlich irgendwann doch ein Sense of Urgency feststellen lassen, wenn auch anders als gedacht. Massnahmen wie die oben genannten Sammlungen frustrierender Mitarbeiter-Erlebnisse würden einen dringenden Bedarf nach einem sofortigen Ende der Veränderungsmassnahmen aufzeigen. Im Folgenden kann man sich dann mit einem anderen englischen Fachbegriff auseinandersetzen: Change Fatigue. Eine eigene Geschichte.

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