Best Practices and Good Practices
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Wer schon immer einen lebhaften Kurzmonolog von einem Agile Coach hören wollte hat eine einfache Möglichkeit ihn herbeizuführen. Alles was man dafür tun muss ist ihn zu fragen was denn die üblichen Best Practices sind die er in seinem Beruf kennt und empfiehlt. Die Antwort wird fast immer die Gleiche sein: Best Practices gibt es in einem agilen Umfeld nicht, da sie grundsätzlich nicht zum Gesamtkonzept passen würden. Allenfalls Good Practices würden vorkommen, und die wären etwas völlig anderes.
Dass so argumentiert wird hängt mit grundlegenden Glaubenssätzen und Überzeugungen zusammen auf denen sich das Konzept der Agilität begründet. Ihnen zufolge ist jedes komplexe Vorhaben ständig mit dem Problem konfrontiert, dass die ursprüngliche Planung nach einiger Zeit nicht mehr für die zu lösende Aufgabe geeignet ist und per Inspect & Adapt angepasst werden muss. Da aber eine Best Practice schon von der Benennung her eine nicht mehr anzupassende Vorgehensweise ist (sie ist ja bereits die Beste) passt sie nicht in dieses Denkmodell.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich auch, dass diese Glaubenssätze durchaus eine Fundierung haben. Alleine die jeweils unterschiedlichen Anwendungskontexte lassen es schwer vorstellbar scheinen, den einen richtigen Weg zu finden. Die Ablösung einer 30 Jahre alten ERP-Software und die Neuentwicklung eines Betriebssystems für eine Mondrakete mögen beides komplexe IT-Vorhaben sein, ideale Praktiken die für beides passen wird es aber nicht viele geben.
Auch die Unbeständigkeit der Umgebungsfaktoren spricht gegen universell gültige Best Practices. Alleine die Entwicklung immer neuer Endgeräte (Laptops, Handys, Tablets, Brillen, Uhren) verändert auch ständig die Art wie Technologien entwickelt werden, Ähnliches trifft für auch Architekturparadigmen und Nutzungsgewohnheiten zu und wird bei näherer Betrachtung auch für viele andere Aspekte zutreffend sein.
Selbst all das zusammengenommen tritt aber in den Hintergrund wenn man es mit dem grössten Problem vergleicht, dass das Konzept der Best Practice mit sich bringt - es ist zutiefst subjektiv. Alleine der Versuch bestimmte Sachverhalte als objektiv richtig zu bezeichnen kann ganze Generationen von Wissenschaftlern in Streitigkeiten stürzen, von diesen dann auch noch einen als "den Besten" auszuwählen kann eigentlich nur scheitern, und zwar bereits lange vor dem ersten Umsetzungsversuch.
Allerdings: die vollständige Verneinung jeglicher Richtlinien ist auch keine Lösung, zumindest nicht ausserhalb sehr radikaler philosophischer Denkrichtungen. Selbst wenn man sich theoretisch alles selbst erarbeiten könnte wäre der damit verbundene Aufwand unverhältnismässig hoch und die dafür erforderliche Zeit unverhältnismässig lang, ganz zu schweigen von der wirtschaftlichen Unsinnigkeit der redundanten Erarbeitung bereits errungener Erkenntnisse.
Die Lösung besteht aus den oben genannten Good Practices. Sie haben sich in bestimmten Kontexten und zu bestimmten Zeitpunkten als passend erwiesen, erheben aber keinen Absolutheitsanspruch, weshalb man sie problemlos überprüfen, anpassen und ggf. sogar verwerfen kann. Für das agil-typische Inspect & Adapt sind sie damit sehr gut geeignet.
Nur eines kann die Verwendung von Good Practices statt Best Practices dem Anwender nicht ersparen: den Kurzmonolog des Agile Coaches. Sobald der dieser diese differenzierte Herangehensweise irgendwo vorfindet wird er sich zwar nicht mehr kritisch äussern, dafür aber in ähnlichem Umfang seiner Begeisterung freien Lauf zu lassen. Zu Recht.