Donnerstag, 28. Mai 2020

(Keine) Stützräder


Bild: Wikimedia Commons / Masahiko Ohkubo - CC BY 2.0
Zu den vermutlich folgenschwersten Missverständnissen rund um Scrum gehört die Ansicht, dass man dieses Framework mit einem Paar Stützräder vergleichen könnte. Genau wie die Stützräder verhindern, dass ein ungeübter Radfahrer umfällt würde Scrum demnach dafür sorgen, dass ein "ungeübter Agilist" nicht versehentlich in den Wasserfall zurückfällt. Obwohl oft gehört und weit verbreitet ist diese Analogie hoch schädlich und falsch.

Um das Offensichtlichste zuerst zu nennen: die Anwender von Scrum werden durch solche Aussagen infantilisiert. Egal ob man ihnen unterstellt zu unerfahren für "unregulierte Agilität" zu sein oder ob ihnen vorgehalten wird sich ohne Not mit "Kinderkram" abzugeben, in beiden Vorhaltungen kann man ein hochproblematisches Menschenbild erkennen. Die Abwertung ganzer Gruppen ist etwas was niemand tun sollte, vor allem dann nicht wenn er sich auf die in der agilen Community verbreiteten Werte Respekt und Augenhöhe berufen will.

Fast ebenso offensichtlich ist, dass fast alle Teams in der "Anfängerphase" ihrer agilen Transition noch nicht zu wirklichem Scrum in der Lage sein werden. Das regelmässige Liefern von Mehrwert und das regelmässige Verbessern der eigenen Prozesse sind anspruchsvolle Aufgaben die man zuerst erlernen und einüben muss. Zu glauben, dass der Arbeitsmodus während dieser Lernphase bereits Scrum ist zeugt von grobem Missverstehen (oder Missverstehen wollen?) dieses Frameworks. Mit dem Einüben kann man zwar früh anfangen, die korrekte Umsetzung ist aber etwas für Fortgeschrittene.

Als weiterer Aspekt kommt dazu, dass man mit derartigen Aussagen den eigenen Handlungsspielraum unnötig einschränkt. Mit den regelmässigen Lieferzyklen, den für Aussenstehende klar erkennbaren Ansprechpartnern, der Positionierung von Scrum Master und PO ausserhalb der Aktualitätszwänge, der Möglichkeit für das Team sich auf die Entwicklung zu konzentrieren und der durch die weite Verbreitung gegebenen niedrigen Eintrittsschwelle gibt es gute Argumente für den Einsatz von Scrum. Sich diese Option dogmatisch zu verbauen ist kein rationales Verhalten.

Eine weitere Problemdimension der Stützrad-Apologeten ist die Missachtung der Schwäche der menschlichen Natur. Das abgeklärt agierende Entwicklungsteam, dass alles selbst in der Hand hat, sich ständig vernünftig verhält und zu nicht zielführenden Wünschen auch Nein sagt ist zwar ein Idealbild, in der Realität findet man es aber eher selten. Zu beobachten ist wesentlich öfter, dass es aus Bequemlichkeit und Konfliktscheue zu einer Erosion der eigentlich angestrebten Verhaltensweisen kommt, sobald kein "Produkt- oder Methodenmensch" warnend die Hand heben kann.

Eine zusätzliche (und leider weit verbreitete) negative Folge ist ausserdem, dass den in Unternehmen weit verbreiteten "Sparfüchsen" ein Argument für Personaleinsparungen in die Hand gegeben wird. Wenn Scrum nur in der "Stützradphase" gebraucht wird, dann kann der Scrum Master danach ja gehen. Dass seine Arbeit nicht mit ihm verschwindet sondern vom verbleibenden Personal zusätzlich zu den bestehenenden Tätigkeiten übernommen werden muss fällt meistens erst auf wenn es zu spät ist.

Um nicht falsch verstanden zu werden - natürlich können sich Teams gegen Scrum entscheiden, mit allen damit verbundenen Möglichkeiten und Konsequenzen. Sie können aber auch dauerhaft dabei bleiben oder es sogar trotz gegebener Agilität spät einführen. Jedem der das mit abwertenden Worten bedenken will sei Selbstreflektion empfohlen.

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