Kommentierte Links (LVII)
Normalerweise sammele ich in den kommentierten Links die jeweils interessantesten oder amüsantesten Artikel die ich im letzten Monat gelesen habe. Von Zeit zu Zeit kommt es aber vor, dass ich einen vorübergehend vergesse oder ihn erst entdecke Monate nachdem er erschienen ist. Hier sind die besten dieser "verpassten" Texte aus dem letzten Jahr.
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Den längsten Essay gleich zu Beginn, und gleichzeitig auch den optimistischsten. Belegt mit vielen Beispielen (Toyota, Linux, Google, Amazon, SpaceX, ING, Spark NZ) schlägt Mary Poppendieck den grossen Bogen von den 80ern bis heute und zeigt auf, dass das was wir heute als Agile oder DevOps bezeichnen seine Ursprünge im Lean Management der japanischen Fabriken des 20. Jahrhunderts hat. Gleichzeitig wirkt sie auch einem verbreiteten Missverständnis entgegen, nämlich dem, dass es in Lean in erster Linie um Effizienzsteigerung, bzw. um die Vermeidung nicht zielführender Tätigkeiten ginge. Als zentrales Element stellt sie die Humanzentrierung heraus, also das in den Mittelpunkt Stellen des Mitarbeiters. Durch Product Ownership, durch dienendes Management, durch die Demokratisierung der Produktionsprozesse. Und als wäre all das nicht schon lesenswert genug beginnt sie ihre Ausführungen mit einer Anekdote aus Deutschland.
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Trotz des englischen Titels ein deutscher Text, und mal wieder ein echter Dueck. Mit im Verlauf des Artikels zunehmendem Sarkasmus seziert er die Fehler, die die Konzerne seit 30 Jahren bei der Digitalisierung und Agilisierung ihres Geschäfts machen. Zusammengefasst: viel Fassade, viel Hochmut, wenig Mut, wenig Bereitschaft sich auf Neues einzulassen. Das ist nicht falsch (und wird auch hier mit vielen bekannten und neuen Beispielen unterfüttert), lässt aber unerwähnt, dass selbst Konzernvorstände weniger frei in ihren Entscheidungen sind als man denken sollte. Von den Aktionären bis zum Betriebsrat will so ziemlich jeder mitreden. Grundsätzlich hat Dueck aber Recht - ein bisschen mehr ginge immer. Und die Anekdote, dass IBM Google Maps hätte vorwegnehmen können, es aber nicht gemacht hat, hat Potential zum Klassiker.
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"Die Budgetierung stellt häufig einen der letzten - und grössten - Stolpersteine auf dem Weg zu einer wirklich agilen Organisation dar", lautet gleich der erste Satz von Steve Dennings Streitschrift. Trotz dieses Auftaktes geht es dann aber strukturiert durch verschiedene Argumentationsphasen. Die historischen Hintergründe, die theoretisch möglichen Vorteile klassischer Budgetprozesse, die in der Realität auftretenden Nachteile und zuletzt die grosse Alternative: Beyond Budgeting. Geschrieben ist das aus einer US-amerikanischen Perspektive, aus einer deutschen/europäischen dürfte es sogar noch schlimmer sein. Die Kombination aus übertriebenem Taylorismus (die Mitarbeiter sind so spezialisiert, dass sie nur noch an einer spezifischen Stelle einsetzbar sind) und einem de facto Kündigungsschutz führt dazu, dass häufig nur noch der Schein von Handlungsfähigkeit entsteht. in Wirklichkeit wird das Geld jedes Jahr auf die selbe Art ausgegeben - das Gegenteil von Business Agility..
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In der Produkt-, Projekt- und Prozessmanagement-Filterblase kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass die agile Bewegung die Gegenwart dominiert, vielleicht sogar so sehr, dass es zu Sellout und Overkill kommt. Die Zahlen die Alistair Cockburn anführt legen etwas anderes nahe: angesichts von hunderten Millionen von Menschen in der Wissensarbeit (davon viele aber keineswegs alle in der IT) fallen die wenigen Millionen die bereits mit dem Thema Agile in Berührung gekommen sind kaum ins Gewicht. Der Bewegung steht ihre eigentliche Wachstumsphase also noch bevor. Dass das in der Öffentlichkeit oft anders dargestellt wird macht Cockburn daran fest, dass diese Mengenverteilung nicht allen bewusst ist. Als die Untergangspropheten der Agilität sieht er jene, die schon vor 10 und mehr Jahren begonnen haben so zu arbeiten. Für die scheint sich der Lebenszyklus dieser Idee dem Ende entgegenzuneigen. Dass sie aber keineswegs repräsentativ sind sollte man im Hinterkopf behalten. Ein wertvoller Beitrag, den man sich in Erinnerung rufen sollte wenn mal wieder jemand "Agile is dead" propagiert.
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Ein lesenswerter Text, hinter dem sich mehr verbirgt als man anhand der Clickbait-Überschrift ahnen könnte. Basierend auf dem Actantial Model von Algirdas Julien Greimas versucht Yuri Malishenko darzustellen mit welchen Betrachtungsweisen und Erwartungshaltungen sich verschiedene Gruppen (Management, Agile Coaches, Mitarbeiter) einer agilen Transition nähern. Die wenig überraschende Erkenntnis: sie sind nicht identisch sondern weichen z.T. stark voneinander ab. Das Interessante daran: mit Hilfe des Actantial Model ist es möglich diese Interessenkonflikte aufzuzeigen und zu visualisieren. Im Fall strauchelnder Veränderungsvorhaben könnte das ein wertvolles Werkzeug sein um aufzuzeigen wo die Beteiligten aneinandervorbeireden.
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Ich muss mich wohl korrigieren. Vermutlich hat nicht Mary Poppendieck den längsten Beitrag in dieser Liste sondern Stefan Kühl. Dass das nicht ganz klar zu sagen ist liegt daran, dass ein nicht unwesentlicher Teil des Textes aus dem Quellenverzeichnis besteht, was ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass hier wissenschaftlich gearbeitet wurde. Die in diesem Zusammenhang behandelte zentrale These ist die, dass Gesetzesbrüche und Regelverstösse in Organisationen meistens nicht auf Schlampigkeit oder Indifferenz zurückgehen sondern das Ergebnis von rationalem Abwägen sind. Die Verstösse werden nur in dem Rahmen betrieben, der eine Erkennung oder Sanktionierung unwahrscheinlich macht - und dieser Rahmen wird durch ständiges Ausprobieren erkundet und ausgereizt. Im Grunde ein Inspect & Adapt mit dem Ziel einer möglichst effektiven brauchbaren Illegalität. Bedingt durch diese Brauchbarkeit ergibt sich implizit eine weitere Dimension der Erziehung zur Normverletzung: die Etablierung der Abweichung von Regeln als organisationskulturelle Erwartung. Führt man sich die in aller Konsequenz vor Augen kann einem schwindelig werden.
- Die agile Skalierung dürfte mittlerweile als Königsdisziplin der Agilität abgelöst worden sein. Die neue Meisterklasse ist die agile Produktion von komplizierter Hardware mit eingebetteter Software. In der heutigen Form erst durch den 3D-Druck möglich geworden entstehen hier in kurzen Zyklen Produkte deren Komplexität und Disruptivität vor kurzem noch unvorstellbar gewesen wäre. Dass Cliff Berg als Paradebeispiel das Raumfahrt-Unternehmen SpaceX vorstellen kann fügt dieser Entwicklung eine zusätzliche Pointe hinzu: "Rocket Science" gilt im englischen Sprachraum als Synonym für extrem anspruchsvolle Aufgaben - und jetzt gibt es eine Firma die in diesem Bereich nicht nur führend ist, sondern das erst durch den Einsatz von MVPs, iterativ-incrementellem Arbeiten und flexibel konfigurierbaren Delivery Pipelines werden konnte.
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Eine schöne Differenzierung. Angelehnt an Tom DeMarco und Timothy Lister unterscheidet Tim Themann zwischen Methoden (Vorgehensmodellen), METHODEN (dogmatischen Regelwerken) und MeTooden (dem Versuch ein an anderer Stelle erfolgreiches Vorgehen zu kopieren). Letzteres kann leicht in Cargo Cult abgleiten, was von Theman nochmal ausdifferenziert wird: Mismatch von Lösung und Problem, versehentlich falsche Übertragung, Unterschätzung des Einführungsaufwandes, ggf. Toolfixierung und Kontaminierung der ursprünglichen, eigentlich guten Idee. Ich würde noch den Survivor Bias hinzufügen, aber das ist nur ein Detail. Was den Charme der MeToode ausmacht ist vor allem der Begriff, der jedem der ein bisschen Englisch kann sofort intuitiv verständlich sein wird.