Wie Angst lähmen kann
Bild: Wikimedia Commons / J. M. Garg - CC BY-SA 4.0 |
Das Problem ist, dass es sich bei einem Grossteil dieser scheinbaren Verbote um keine offiziellen Regeln handelt sondern um inoffizielle. Es ist also nirgendwo festgehalten, dass man eine bestimmte Handlung (Überstunden ablehnen, selbst Entscheidungen treffen, Anforderung hinterfragen, etc.) nicht durchführen darf. Trotzdem wird oft angenommen, dass ein Verbot besteht und allein das in Erwägung ziehen eines nicht konformen Verhaltens wird vehement negiert.
Dort wo derartige Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass das als verboten angenommene Verhalten irgendwann in der Vergangenheit bestraft worden ist. Alleine die Erinnerung daran (und die Angst vor einer neuen Bestrafung) kann dann dafür sorgen, dass mit allen Kräften versucht wird eine Wiederholung dieser Ereignisse zu verhindern. Für den psychologisch Interessierten: es ist die Übertragung des berühmten Rhesusaffen-Experiments von Gordon R. Stephenson auf den Menschen.
In einer solchen Situation ist es mit einem gut gemeinten Versuch es doch einfach nicht mehr getan. Was nötig ist, ist die Schaffung eines Safe Space, also einer Umgebung in der es sichergestellt ist, dass es nicht zu einer Bestrafung kommen wird - und zwar auch dann nicht (genauer gesagt gerade dann nicht!) wenn das Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht oder ungeplante Seitenauswirkungen auf andere Bereiche hat. Nur wenn das gelingt kann es zu Verhaltensänderungen kommen.
Was ist für die Schaffung eines solchen Safe Space nötig? Zuerst das Ansprechen des Root Cause, also der in der Vergangenheit stattgefundenen Bestrafung1.Wenn sie aufgrund einer damals noch gültigen Regel stattgefunden hat muss klar gemacht werden, dass diese Regel nicht mehr in Kraft ist, wenn sie ohne derartige Grundlage stattgefunden hat muss das als Fehler eingestanden werden. Und diese Aussage muss von der Hierarchiebene kommen von der aus die Bestrafung stattgefunden hat oder von einer höheren.
Als nächstes macht es Sinn festzuhalten, dass die aktuellen Regeln ein bestimmtes Verhalten nicht nur zulassen sondern sogar ermutigen. Idealerweise findet das nicht nur durch eine Anpassung des dritten Absatzes der vierten Seite des achten Kapitels des Prozesshandbuches statt sondern durch plakatives Aufhängen an einer zentralen Stelle, etwa als Banner mit der Aufschrift "Wir dürfen und sollen Nein sagen."
Falls nötig kann auch vereinbart werden was der Rahmen ist innerhalb dessen ohne Sorgen gehandelt werden kann. Dass Selbstorganisation nicht grenzenlos sein kann sollte eigentlich offensichtlich sein, und dass diese Grenzen nicht festgelegt wurden ist oft ein Grund für unbewusste Überschreitungen und ein als Strafe empfundenes nachträgliches Festsetzen. Was an dieser Stelle wichtig ist: ist der Rahmen zu eng gesetzt wird er im Zweifel als einengend und einschüchternd empfunden werden.
Zuletzt kann es helfen wenn die Respektierung der gewährten Freiheiten (und das Nicht-Stattfinden von Bestrafungen) regelmässig validiert wird. Wie das vor sich gehen kann wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein müssen, möglich ist z.B. das Durchführen von Experimenten in einem iterativ immer grösser werdenden Rahmen oder ein anlassgetriebener Lessons Learned-Prozess. In jedem Fall sollten aber positive Beispiele hervorgehoben und erörtert werden.
Klar sollte sein, dass all diese Massnahmen in den meisten Fällen nicht nötig sein sollten. Sie machen vor allem dort Sinn wo in einem Unternehmen eine Angstkultur herrscht, die es abzuschaffen gilt, und die man erkennt an Sätzen wie "Nein, das machen wir nicht, das werden die uns nie erlauben."
1Es gibt auch Fälle in denen das Management bestreitet, dass es eine Bestrafung gab, bzw. eine stattgefundene Handlung nicht als Bestrafung sehen will. Das sind dann nochmal ganz eigene Probleme.