Weniger ist mehr
Eine Tendenz die bei neu gestarteten agilen Transitionsvorhaben häufig zu beobachten ist, ist die Konzentration auf das Erschaffen von Neuem. Neue Rollen, neue Prozesse, neue Regeln, neue Visionen, neue Skalierungsframeworks, neue Tools, neue Hierarchien, neue Karrierepfade, etc., etc. Das ist auch nicht notwendigerweise falsch, es ist aber meistens ein bewusst oder unbewusst durchgeführter Versuch um das größte Problem herumzunavigieren: die organisatorischen Altlasten.
Dass eine Organisation sich überhaupt verändern möchte liegt in der Regel daran, dass sie die Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr bewältigen kann, und das wiederum liegt fast nie an zu wenig Strukturierung und fast immer an zu viel davon. Wer in solchen Strukturen arbeitet kennt die Beispiele: selbst kleinere Ausgaben müssen über den Tisch des Bereichleiters, ein Zugriff auf bestimmte Entwicklungs- oder Testumgebungen muss schriftlich beantragt werden, jede noch so kleine neue Software ist vom Betriebsrat zu prüfen bevor sie benutzt wird. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Wenn jetzt zusätzlich zu all dem noch neue Rollen, Regeln und Prozesse eingeführt werden, dann führt das in den meisten Fällen nicht zu schnelleren und flexibleren Prozessen. Im besten Fall ändert sich nichts, im schlimmsten Fall wird sogar alles noch langsamer. Wenn dann argumentiert wird, "dass das alles nichts bringt" ist nicht abzustreiten, dass darin eine Wahrheit liegt - eine derartig durchgeführte Transition sollte hinterfragt und in vielen Fällen besser abgebrochen werden.
Ein wesentlich besserer Ansatz ist es, als erstes einen anderen Weg zu gehen, nichts Neues einzuführen und stattdessen bestehende Regeln abzuschaffen. Das ist natürlich schwierig und schmerzhaft, weil es mit langjährigen Gewohnheiten bricht und weil viele der für diese Regeln verantwortlichen Menschen darauf bestehen werden, dass gerade die von ihnen verantwortete Genehmigung unglaublich wichtig für Qualität, Transparenz, Effizienz oder Effektivität wäre. Aber diese Anstrengungen lohnen sich.
Auch hier machen Beispiele alles anschaulich: Wenn die Testabteilung nicht mehr das Monopol auf die Qualitätssicherung hat kann jedes Team sie selber durchführen und muss nicht mehr um Test-Ressourcen kämpfen und auf sie warten. Wenn nicht mehr jedes kleine Monitoring-Tool durch einen Genehmigungsprozess muss lassen sich verschiedene von ihnen schnell ausprobieren, um so das beste zu finden. Und wenn nicht mehr jeder Kleinbetrag freigegeben werden muss sinken häufig sogar die Kosten, die vorher im Wesentlichen durch die Verwaltungsabläufe entstanden sind.
Das an dieser Stelle folgende Gegenargument ist so alt wie die Bürokratie selbst: "Aber dann macht ja jeder was er will!". Und es ist gut wenn es kommt, denn ausgehend von ihm kann man jetzt über Selbstorganisation und Autonomie reden. Die sollten nämlich als nächstes entstehen, wenn die Transition ernst gemeint ist.