Kommentierte Links (XXXII)
Normalerweise sammele ich in den kommentierten Links die jeweils interessantesten oder amüsantesten Artikel die ich im letzten Monat gelesen habe. Von Zeit zu Zeit kommt es aber vor, dass ich einen vorübergehend vergesse oder ihn erst entdecke Monate nachdem er erschienen ist. Hier sind die besten dieser "verpassten" Texte aus dem letzten Jahr.
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Einer der großartigen Texte in denen (unbewusst?) von Agilität die Rede ist, ohne dass sie bei diesem Namen genannt wird. Die Quintessenz: statt zu planen (eine Abfolge von Vorgängen zu definieren und sich dann stur daran zu halten) ist das Erarbeiten einer Strategie sinnvoller - "weiter reichendes Denken auf Vorrat, bei dem man ein festes Ziel mit unterschiedlichen Mitteln flexibel ins Auge fasst", wie Wolf Lotter, der Autor dieses Artikels, es mit unvergleichlicher Wortwahl nennt. Letztendlich findet sich hier, mit Verweisen auf Sun Tzu, Peter Drucker, Moltke, Clausewitz und einige andere, der Kern dessen was Agilität von Chaos unterscheidet: ständige Anpassung an sich ändernde Umstände bei gleichzeitigem konsequenten Verfolgen eines übergeordneten Ziels.
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Ich beschreibe Change bei meinen Kunden immer wie das Salzen des Essens: wenn das Salz einmal drin ist bekommt man es nicht mehr heraus. Die Metapher mit Kaffee und Milch hat mich darum sofort angesprochen. Auch in den anderen hier geäusserten Ideeen erkenne ich Überzeugungen von mir wieder, vor allem in der, dass es für effektive Veränderung sinnvoller ist bestehende Regeln zu entfernen statt neue einzuführen. Sobald den Menschen in sich ändernden Organisationen klargeworden ist welche befreiende Wirkung ein derartiges Entfesseln hat werden sie von sich aus auf die Abschaffung weiterer Regeln drängen und so selbst für ein Aufrechterhalten des permanenten Wandels sorgen. Die Einführung immer neuer Regeln (selbst wenn sie noch so gut sind) führt dagegen früher oder später zu Verschlechterungen, zu versalzenem Essen gewissermassen.
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Beim hochinnovativen IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley denken die Menschen an alles mögliche, ganz sicher aber nicht an einen Pizza-Lieferservice. Das Beispiel von Zume Pizza ist ein hochinteressantes Beispiel für viele Aspekte von Innovations- und Optimierungsmanagement: manuelle Prozesse werden automatisiert, aber nur dort wo es zielführend ist, kreative oder ästhetische Arbeiten werden weiter von Hand ausgeführt. Und besonders beeindruckend: die Trennung von Produktions- und Lieferprozessen wird aufgehoben und sogar je nach Nachfrage modifiziert - der Lieferwagen verfügt über mehrere Öfen und kann zu Zeitpunkten hoher Nachfrage als temporäres Back- und Logistikzentrum genutzt werden. Disruption in einer Branche in der sie keiner vermuten würde. (den Beitrag gibt es auch als Video)
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Zur Abwechselung ein bisschen Geschichtsunterricht. Genau wie im Fall von Lean und Agile können auch die Ursprünge von Design Thinking über mehrere Jahrzehnte zurückverfolgt werden. Dieser Beitrag ist wunderbar geeignet um ihn allen zu schicken die das Ganze als neumodischen Hype abtun wollen, denn er enthält neben Darstellungen verschiedener Denkschulen und Vordenker auch eine grafisch aufbereitete Zeitleiste und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Wer weiter nach unten scrollt kommt auf noch mehr Inspirationen, denn in den Kommentaren werden weitere historische Stränge und Personen genannt.
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Es gibt Blogs die wie Sternschnuppen sind - sie tauchen plötzlich auf, strahlen für einen kurzen Moment und verglühen wieder. Everyday Agile ist, bzw. war ein solcher Blog, er wurde leider nur von Februar bis Juni betrieben, gehörte aber in dieser kurzen Zeit sowohl optisch als auch inhaltlich zu den besseren. The Biggest Waste in Agile steht stellvertretend für die ingesamt gerade einmal zehn Beiträge die hier verfasst worden sind, die anderen sind ebenfalls lesens- und sehenswert. Und da der Titel schon sehr effektheischend ist kommt hier der vorgeschaltete Spoiler: die größte Verschwendung im agilen Kontext sind Informationen die bei der Kommunikation zwischen zu stark arbeitsteiligen Teams oder Personen verlorengehen.
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Dass das so genannte "Spotify Model" nur eingeschränkt zur Nachahmung empfohlen ist wird von den Beteiligten selbst immer wieder betont. Es beruht zu sehr auf organisatorischen, technischen und kulturellen Besonderheiten dieser Firma, die in dieser Konstellation praktisch nicht reproduzierbar sind. Da immer mehr Firmen trotzdem genau das versuchen (die meisten davon lediglich auf Basis der beiden berühmten Engineering Culture-Videos) gab es dieses Jahr gleich mehrere Konferenz-Auftritte von Spotify-Mitarbeitern auf denen davor gewarnt wurde, unter anderem auf der Agile 2017, der Lean Agile Scotland und der Agile Bangkok. Dass man das unreflektierte Kopieren unterlassen und sich trotzdem von dieser Firma inspirieren lassen kann zeigt Alexandre Magno, der zurecht darauf hinweist, dass das eigentlich Besondere hier die Bereitschaft war durch ständiges Lernen einen eigenen Weg abseits der etablierten Frameworks zu entwickeln. Das kann in der Tat als Vorbild empfohlen werden.
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Steve Denning steht mittlerweile seit Jahren als kluger und interessierter Beobachter am Rand bzw. leicht ausserhalb der agilen Filterblase und notiert wie agile Praktiken langsam in die Welt der großen Unternehmen eindringen. Am Beispiel der Firmen des SD Learning Consortium beschreibt er einen neuen Versuch die Inhalte des agilen Manifests konzerntauglich zu machen. Die dabei entstandenen Grundsätze sind:
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Delighting customers
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: alles was ein Unternehmen unternimmt sollte darauf ausgerichtet sein, bei den Kunden Erfolg zu haben. In der Realität leider häufig nicht gegeben.
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Descaling work
Die Bewältigung von Volatilität und Ungewissheit durch die Dekonstruktion von großen Vorhaben in kleine Arbeitspakete, durch die schnelle Markterfolge und Lerneffekte möglich sind.
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Enterprise-wide Agility
Die Übertragung von schlanken und reaktionsschnellen Organisationsformen auf die ganze Firma statt der häufig zu findenden dysfunktionalen Hybridlösung aus agilen Umsetzungsteams und Command & Control-orientiertem Management.
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Nurturing culture
Das vermutlich Schwierigste von allem: die Veränderung der Unternehmenskultur in Richtung eines ganzheitlichen Innovations- und Unternehmer-Ansatzes auf allen Ebenen.
Interessant ist auch die Begründung für diese Neuformulierungen: das ursprüngliche Manifest aus vier Gegensatzpaaren und zwölf Prinzipien wäre zu umfangreich um in Großunternehmen kommuniziert zu werden. Honi soit qui mal y pense.
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Mit mehreren hundert Artikeln alleine im Jahr 2017 (!) dürfte John Cutler einer der produktivsten Agile-Blogger sein, vielleicht sogar der produktivste von allen. Auf den ersten Blick ist dieser Artikel von ihm einer von mittlerweile unzähligen die die Entstehung und den Aufstieg der Agile-Bewegung nacherzählen. In dieser Hinsicht ist er nicht einmal besonders, andere, z.B. der von Caroline Mimbs in The Atlantic sind wesentlich besser geschrieben. Was ihn einzigartig macht ist die Erzählperspektive: stichwortartig notiert aus der Sicht der ersten Pioniere erkennt man den Zwiespalt aus der Begeisterung über die immer größere Verbreitung und der Verzweifelung angesichts von zunehmendem Kontrollverlust und Missbrauch. Am Ende steht die selbe Erkenntnis wie am Anfang - irgendetwas stimmt hier nicht, wir müssen an Verbesserungen arbeiten. Ein ewiger, sich selbst stimulierender Zyklus.