Donnerstag, 12. Mai 2016

Subsidiarität

Bild: Wikimedia Commons/Salerna - CC BY-SA 3.0
Wenn die Verfasser des Manifests für agile Softwareentwicklung sich seinerzeit mehr Gedanken über Skalierung gemacht hätten, hätten sie in ihre Prinzipien auch eines aufgenommen, das (meiner bescheidenen Meinung nach) heute dort fehlt - die Subsidiarität. Sie lässt sich zwar indirekt aus einigen der anderen Prinzipien ableiten, explizit genannt wird sie aber nicht. Aber zuerst kurz zum Verständnis: Was soll das überhaupt für ein Konzept sein?
Subsidiarität (von lat. subsidium „Hilfe, Reserve“) ist eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Maxime, die Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und die Entfaltung der Fähigkeiten des Individuums anstrebt [...].

Die jeweils größere gesellschaftliche oder staatliche Einheit soll nur dann, wenn die kleinere Einheit dazu nicht in der Lage ist, aktiv werden und regulierend oder kontrollierend oder helfend eingreifen.

Hilfe zur Selbsthilfe soll aber immer das oberste Handlungsprinzip der jeweils übergeordneten Instanz sein. Aufgaben, Handlungen und Problemlösungen sollten so weit wie möglich vom Einzelnen, von der kleinsten Gruppe oder der untersten Ebene einer Organisationsform unternommen werden.
Mit anderen Worten: So viel wie möglich soll auf der untersten möglichen Hierarchiestufe entschieden und umgesetzt werden. Das ist zunächst einmal nichts Neues - die evangelische Kirche organisiert sich seit dem 16. Jahrhundert so, die katholische seit dem 19. Jahrhundert, der Staat seit dem ersten Weltkrieg. In der Wirtschaft dagegen ist diese Idee eher neu - bis heute sind Konzerne und Mittelständler überwiegend zentralistisch organisiert, die unteren Ebenen (quasi die Basis der Pyramide) führen dabei nur das aus was die oberen anordnen. Und diese Struktur verursacht heute Probleme.

In einer Zeit immer schneller werdender Innovationszyklen und Marktveränderungen würde es viel zu lange dauern, wenn jeder Änderungsbedarf von der Basis (wo er auftritt) zuerst nach oben kommuniziert, dort geprüft, bewertet und entschieden und die Entscheidung dann wieder nach unten durchgereicht und dort umgesetzt werden würde. Ich habe solche Prozesse erleben dürfen, sie haben z.T. sechs bis zwölf Monate gedauert. In dieser Zeit ist die Konkurrenz längst davongezogen. Wer das nicht will muss zulassen, dass Entscheidungen weit unten getroffen werden, und zwar Entscheidungen aller Art: technische Entscheidungen, Marketing-Entscheidungen, Produktentscheidungen, etc.

Natürlich hat das auch Konsequenzen: einheitliche Markenführung, einheitliche Kommunikationsstrategien oder einheitliche IT-Architekturen sind so nur noch schwer durchzusetzen, und wenn überhaupt, dann nachträglich. Ein eingängiges Beispiel daür sind die Logos der Untergesellschaften der Firma Google gewesen - bedingt durch das schnelle Wachstum war für ein einheitliches Corporate Design lange keine Zeit. Stattdessen herrschte lange ein dezentraler Wildwuchs vor. Und hätte man den nicht zugelassen sondern die neuen Dienste so lange zurückgehalten bis irgendjemand Styleguides entworden und abgestimmt und ein den Standards entsprechendes Logo entworfen oder genehmigt hätte - vielleicht wären Microsoft oder Yahoo mit ihren Angeboten dann schon lange vorher am Markt gewesen. Da ist Uneinheitlichkeit das kleinere Übel.

Um es mit den Worten eines entsetzten Managers aus einem Dax-Konzern zu sagen: "Aber dann kann da unten ja jeder machen was er will!" Nun ja, das ist stark vereinfacht, aber grundsätzlich richtig - und es macht Sinn. "Dort unten" ist der Kontakt zur Realität schließlich am intensivsten und die Fachkenntnis am größten. Oft können die Entscheidungen dort am schnellsten, am besten und am effektivsten getroffen werden. Das wäre tatsächliche Subsidiärität, und agil wäre es auch. Und solche Sachen wie z.B. die genannten Logos - so wichtig wie häufig getan wird sind die anscheinend gar nicht. Oder hätte irgendjemand auch nur gewusst, dass es diesen Wildwuchs mal gab?

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