Montag, 9. Mai 2016

Re-Estimation


Sollte man die Komplexitätsschätzungen von User Stories nachträglich ändern dürfen, also nachdem sie bereits abgeschlossen sind? Etwa wenn eine ursprünglich als trivial eingeschätzte Story sich während des Sprints als doch sehr komplex herausgestellt hat? In fast allen Teams die ich bisher betreut habe (oder in denen ich Mitglied war) hat sich diese Frage früher oder später gestellt, und praktisch jedesmal hat sie zu kontroversen Diskussionen geführt. Früher oder später landete das Thema dann bei mir: "Was sagt der Scrum Master/der Team Coach dazu?" Meine Antwort: "Das kommt ganz darauf an." Story Point-Estimations kann man aus unterschiedlichen Gründen machen, und je nachdem welcher es ist macht eine nachträgliche Neuschätzung Sinn oder nicht.

Fall 1: Estimations als Diskussionsgrundlage

In manchen Teams werden Estimations nur genutzt um die Diskussionen während der Refinements oder Plannings voranzutreiben. Jedes Teammitglied begründet seine Einschätzung und ermöglicht den anderen dadurch neue Blickwinkel oder macht sie auf neue Aspekte aufmerksam. Wenn eine Schätzung signifikant von den anderen abweicht geht die Diskussion tiefer ins Detail, wenn nicht, dann nicht. Ein Team das so vorgeht braucht meiner Meinung nach keine nachträgliche Neuschätzung. Über die Lessons learned sollte man sich schon unterhalten, das reicht dann aber auch.

Fall 2: Estimations zur Berechnung von Aufwänden oder Preisen

Auch das habe ich schon erlebt. Teams benutzen Story Points um Zeit oder Kosten zu berechnen, etwa so, dass ein Story Point einem Sprint-Tag entspricht, oder so, dass dem Kunden pro Story Point 10.000 € in Rechnung gestellt werden. Solchen Teams kann man nur raten in sich zu gehen und zu erkennen, dass sie kein Scrum, bzw. Agile betreiben sondern lediglich Cargo Cult. Ich würde an dieser Stelle dazu raten, die Estimation-Probleme vorerst zurückzustellen und sich anderen, drängenderen Problemen zuzuwenden. Zum Beispiel der Frage "Was mache ich noch alles falsch und wie kann ich damit aufhören?".

Fall 3: Estimations zur Messung der langfristigen Velocity

Für mich der einzige Fall in dem eine Re-Estimation Sinn macht. Wenn die Story Point-Summen der vergangenen Sprints nebeneinander gelegt werden und daraus ein Durchschnittswert ermittelt wird, dann kann man eine (vorsichtige) Prognose abgeben, wie lange es noch dauern könnte, die verbleibenden User Stories zu vervollständigen. Dafür sind allerdings drei Voraussetzungen erforderlich: zum einen stabile Teams, zum anderen eine ungefähr gleichbleibende Menge externer Störungen (etwa durch Linien-Aufgaben) und zuletzt eine ausreichende Menge noch kommender Stories die schon (vorläufig) geschätzt werden können.

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