Transparenz ist etwas anderes als Kontrolle (und der Spiegel ist ein Käseblatt)
Bild: Pixabay / Bykst - Lizenz |
Im Artikel Die neue soziale Frage geht mal wieder die Welt unter. Der Sozialstaat wird durch "die Digitalisierung" unterlaufen, Menschen werden ausgebeutet, Arbeitnehmer entrechtet. Mittendrin: eine Firma die es geschafft hat, dass ihre Mitarbeiter sich selber in eine Art selbstgezimmerten orwellschen Überwachungsapparat begeben. Jeder muss dokumentieren was er tut, sobald er es nicht schafft steht er am Pranger. Die Kollegen werden "online beobachtet", es herrscht "volle Kontrolle". Um Gottes Willen!! Was hier beschrieben wird ist aber keineswegs irgendeine Wahrheit gewordene Dystopie, was hier beschrieben wird ist agiles Arbeiten, ist Scrum. Und das wird hier böswillig verzerrend dargestellt. An dieser Stelle zwei Klarstellungen: Ich konzentriere mich im Folgenden auf diesen einen Abschnitt (S.60), in dem die Agilität dämonisiert wird. Den Rest kann aufdröseln wer will. Und ich kenne die betroffene Firma nicht. Was ich kenne ist Scrum, ist Agile. Dazu ein paar Sätze.
Zunächst: Scrum bedeutet, dass die Teams sich selbst organisieren. Es gibt in dieser Methode eben nicht mehr den von oben herunterregierenden Abteilungsleiter oder Geschäftsführer; das Team stellt sich täglich zusammen, berichtet sich gegenseitig vom aktuellen Arbeitsfortschritt und geht selbstbestimmt die nächsten Aufgabenpakete an. Natürlich ist das nur dann möglich, wenn jeder weiß was bereits erledigt ist und was noch zu tun ist. Durch Transparenz eben. Wie sonst soll man verhindern, das manche Arbeiten doppelt und manche gar nicht erledigt werden?
Des weiteren: Scrum bedeutet ebenfalls, dass man den Kunden von Beginn an einbindet. Ihm wird nicht mehr ganz zum Schluß ein fertiges Produkt vorgesetzt, das während der Erstellung von ihm abgeschirmt wurde, und das vielleicht gar nicht dem entspricht was er eigentlich wollte. Stattdessen kann er frühzeitig sagen "Ja, so habe ich mir das vorgestellt" oder "Nein, da habt Ihr mich falsch verstanden". Gegebenenfalls kann er sogar Änderungswünsche anbringen, wenn er merkt, dass es in der Realität nicht ganz so gut aussieht wie er es sich vorher gedacht hat. Wie sonst soll ein frühes und konstruktives Feedback möglich sein?
Für den Spiegel ist das trotzdem alles verdächtig. Offenheit, Vertrauen, Transparenz, Zusammenarbeit, konstruktives Feedback und Kritikfähigkeit kommen in dem dort herrschenden Weltbild anscheinend nicht vor, stattdessen wird alles in seine schlimmstmögliche Auslegung verdreht und in ein Untergansszenario ausgehöhlt zusammenbrechender Arbeitnehmerrechte eingebaut. Letztendlich muss man fast froh sein, dass die Begriffe Scrum und Agile hier nicht genannt und damit durch den Schmutz gezogen werden. Differenzierung? Einordnung? Vielleicht sogar ein bisschen Hintergrundinformation? Fehlanzeige.
Das betroffene Unternehmen, Seibert Media, wirft dem Spiegel übrigens vor, dass Aussagen verdreht und sinnentstellend wiedergegeben wurden und dass die journalistische Sorgfalt der bereits im voraus feststehenden Stoßrichtung des Artikels geopfert wurden. Das Traurige daran: Es würde mich weder wundern noch überraschen. Dieses Magazin hat in meinen Augen keine Reputation mehr, die es verlieren könnte.
Zur Stellungname von Seibert Media (incl. einer Dokumentation der entsprechenden Passage des Spiegel-Artikels) geht es hier.