Montag, 15. Dezember 2025

Trust as Infrastructure

Trotz aller künstlichen Intelligenz - am Ende sind es Menschen, die Software erstellen. Auf diese Prämisse baut Bryan Cantrill seinen Vortrag auf, in dem er das Vertrauen in die Menschen in den Software-Entwicklungsorganisationen zu einer zentralen Infrastruktur der IT-Industrie erklärt. Dieses Vertrauen muss gegeben sein, da in einem komplexen Umfeld vollständige Kontrolle nicht möglich ist.



Spannend ist dabei, dass Cantrill das Thema Vertrauen von seiner verbreitetsten Interpretation löst, nämlich dem, dass es eine auf einzelne Personen bezogene positive Erwartung ist. Stattdessen arbeitet er heraus, dass es in Organisationen oder Bewegungen (wie der Open Source-Bewegung) ein ganzes Geflecht verschiedenster Vertrauensbeziehungen innerhalb zwischen verschiedenen Gruppen geben muss, wenn irgendetwas funktionieren soll.

Freitag, 12. Dezember 2025

Wie der Staat wieder handlungsfähig wird (IV)

Manchmal finden die spannenden Sachen direkt vor der eigenen Haustür statt, wie in dieser Woche die Fachkonferenz Public Sektor und Beratung in Bonn. Vertreter verschiedener grosser und kleiner Beratungsfirmen (u.a. meiner) könnten hier mit Experten aus dem Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung, dem Landesrechnungshof, dem Bundesverwaltungsamt und anderen Behörden diskutieren, wie die öffentlich Verwaltung effektiver arbeiten und beraten werden kann


Ein Thema, das sich dabei durch fast alle Vorträge und Diskussionen zog, war dabei das staatliche Einkaufswesen, bzw. dessen Unzulänglichkeiten. Mehrere Sprecher gingen sogar soweit, die hier nötigen Reformen zum entscheidenden Erfolgsfaktor der Verwaltungsmodernisierung zu erklären. Da er einen derartig prominenten Status zu haben scheint, lohnt sich ein näherer Blick auf die Konferenz-Erkenntnisse - was liegt denn laut Expertenmeinung im Argen im staatlichen Einkauf?


Beauftragende Stellen und Einkaufsabteilungen sind oft schlecht abgestimmt

Einer der schlimmsten Punkte direkt zu Beginn: der Einkauf und die Menschen für die etwas eingekauft wird reden in vielen Fällen zu wenig miteinander. Wenn z.B. eine kleine Behörde einen IT-Administrator braucht, fragen viele Einkäufer nicht nach für welche Systeme oder mit welchen benötigten Fähigkeiten, sondern googlen nur danach, was man dafür können müsste, und übernehmen das dann unverändert.


Viele Ausschreibungen sind inhaltlich irreführend oder sogar falsch

Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass viele eingekaufte Leistungen komplett am Bedarf vorbeigehen. Ein Beispiel das auf der Konferenz genannt wurde war eine Behörde, die auf der Suche nach jemandem war, der in der Poststelle physische Werbesendungen aussortieren sollte. Beauftragt wurde jemand, der Spezialist für Spamfilter in Email-Programmen war.


Zusammengehörende Gewerke werden separat ausgeschrieben

Dieser Missstand hat einen erkennbaren Taylorismus-Ursprung. Statt zusammengehörende Leistungen gemeinsam zu beauftragen, werden sie oft künstlich getrennt und separat vergeben. Ein Beispiel war ein IT-System das von einem Dienstleister kontinuierlich weiterentwickelt wurde, während ein zweiter die Nutzer darin schulen sollte - ohne zu wissen, was daran zuletzt geändert worden war.


Die Ausschreibungen sind oft unnötig detailliert

Hier kann man zumindest den Wunsch unterstellen, genau das Richtige einzukaufen. In der Realität kommt es aber immer wieder zu einem absurden Detailgrad, etwa dann, wenn ein Dienstleister nicht nur für alle Mitglieder seines Teams die Schul- und Hochschulzeugnisse angeben soll, sondern auch an welchen Kalendertagen diese Zeugnisse jeweils ausgestellt wurden.


In vielen Ausschreibung stehen unrealistische Anforderungen

In diesen Fällen zeigt sich, wie viele Detailkenntnisse die jeweiligen Einkäufer haben. Immer wieder genannte Klassiker sind die Anforderungen nach fünf- oder zehnjähriger Erfahrung mit Technologien, die es noch gar nicht so lange gibt (z.B. modernen LLM-Anwendungen). Die Zahl der Fälle, in denen wegen derartiger unerfüllbarer Anforderungen kein einziges Angebot eingeht, ist anscheinend beträchtlich.


Selbst kleine Formfehler können zum Ausschluss führen

Ein Beispiel, dass ich selbst erlebt habe: beim Nachfassen wegen eines abgegebenen Angebots wurde mir mitgeteilt, dass wir aussortiert worden waren, da der angebotene Berater keine PSM II-Zertifizierung hatte. Was in unseren Unterlagen stand - er hatte eine PSM 2-Zertifizierung. Inhaltlich das Selbe, aber da wir arabische statt römischer Zahlen benutzt hatten, waren wir draussen.


Die Vergabekriterien sind oft sehr unklar

Um mit dem Positiven zu beginnen: es wird oft versucht, den Entscheidungsprozess transparent zu machen, etwa indem angegeben wird, durch welchen Faktor wieviele Bewertungspunkte zu erreichen sind. Bei einer Angabe wie "Konzept: 20 Punkte" (ein reales Beispiel) bleibt aber völlig offen, anhand welcher Kriterien das einzureichende Konzept bewertet wird.


Zu häufig gibt nur der Preis den Ausschlag

In der Theorie ist zwar der Preis nur eines von mehreren Entscheidungskriterien, in der Realität vieler Beratungs-, Bau- und IT-Projekte wird aber sehr häufig das billigste Angebot angenommen, das gaben die Behördenvertreter auf der Konferenz zu. Da niedrige Preise aber vor allem durch Niedriglohn-Personal und billiges Material möglich werden, bedeutet das meistens auch schlechte Qualität der Ergebnisse.


Ausschreibung ≠ Beauftragung

Für die an Ausschreibungen teilnehmenden Unternehmen einer der grössten Frustfaktoren: anders als man denken könnte, ist der Gewinn einer Ausschreibung oft nicht mit einer Beauftragung gleichzusetzen. Man gewinnt nur einen Rahmenvertrag, ob in dessen Rahmen wirklich die eigentliche Beauftragung stattfindet ist unklar. Viele Behörden schreiben "auf Vorrat" aus, nicht wegen akutem Bedarf.


Die Liste liesse sich noch ewig fortsetzen, auf der Konferenz wurden noch zahlreiche weitere Ärgernisse genannt, von ausufernden Dokumentationspflichten über in der Realität nur schlecht funktionierende juristische Konstruktionen wie das 3 Partner Modell/3PM bis zu dreisten Forderungen wie einer unbezahlten Einarbeitungszeit. Aber genug gejammert, wie ginge es besser?


Worüber sich fast alle Konferenzteilnehmer einig waren: zusätzliche Vorschriften, Richtlinien und Verbote für die staatlichen Einkaufsabteilungen wären keine Lösung, sondern würden nur zu noch mehr Bürokratie führen. An vielen Stellen wäre es vielmehr sinnvoll, der Regulierungsumfang zurückzufahren, da er ein wesentlicher Grund für das Ausufern der Einkaufsprozesse ist.


Ein zielführenderer Ansatz wäre eine bessere Qualifizierung und Begleitung der staatlichen Einkaufsabteilungen. Diese sind bisher in vielen Fällen von Umfang und Komplexität der Materie überfordert. Man denke z.B. an eine Kleinstadt, die durch die Übernahme einer aufgegebenen Kaserne ein Bauprojekt noch nie dagewesener Grösse stemmen muss. Woher soll dafür die Kompetenz kommen?


Für die Qualifizierung und Begleitung der Mitarbeiter in derartigen Behörden gibt es tatsächlich bereits mehrere staatliche Stellen, die als "Inhouse Consulting" der öffentlichen Verwaltung funktionieren, etwa das Beratungszentrum des Bundes oder das Auftragsberatungszentrum Bayern. Ein erster Schritt wäre es, diese relativ unbekannten Angebote bekannt zu machen.


Auch weitere Ideen gibt es, etwa den auf der Fachkonferenz Public Sektor und Beratung vorgestellten "Berater-Führerschein". Angedacht ist, dass diese Weiterbildung für jeden verpflichtend wird, der Beratungsaufträge ab einer bestimmten Höhe vergeben darf. Die Idee ist, durch ihn nicht nur Wissen über den Einkauf, sondern auch über die Steuerung und Effizienzmessung von Beratern zu vermitteln.


Die Gemeinsamkeit derartiger Ansätze: den auf diese Art qualifizierten Einkäufern wird danach grösserer Freiraum gelassen, in dem Vertrauen, dass ja auch sie selbst ein Interesse an einer möglichst reibungslosen und erfolgreichen Abwicklung ihrer Einkaufsprozesse haben. Und als Seiteneffekt wird der Beruf dadurch auch attraktiver.


Siehe auch: 

Steve Blank: The Department of War Just Shot the Accountants and Opted for Speed

Dienstag, 9. Dezember 2025

Agile Bauprojekte (IX)

Bild: Pexels / Javier Gonzalez - Lizenz

Der grosse Hype um das Thema Künstliche Intelligenz (KI/AI) ist nicht mehr ganz so ausgeprägt wie er es kurz nach dem Markteintritt von ChatGPT & Co war. Eigentlich gut so, denn jetzt kann man mit etwas nüchternerer Betrachtung bewerten, wo dadurch ein wirklicher Mehrwert erbracht wird. Einer der Bereiche in denen das stattfindet ist das Baugewerbe, und die Technik die hier im Einsatz ist, trägt einen relativ unbekannten Namen: Parametric Design.


Kurz zum Kontext: beim Bauen von Gebäuden kann man anders als beim Maschinen- und Gerätebau nicht mit einem Prototypen beginnen, aus ihm lernen und einen besseren bauen. Was einmal steht lässt sich nur teuer wieder abreissen. Die ersten Ergebnisse (wenn man von Design-Skizzen absieht) bestehen hier daher aus Berechnungen der Statik und der Materialbelastbarkeit der zukünftigen Gebäude. Erst wenn die fertig sind, kann das eigentliche Bauen beginnen.


Da diese Berechnungen aufgrund der zahlreichen Parameter (u.a. Höhe, Breite, Grösse der Innenräume, Material, Untergrund, Wetter) sehr umfangreich sind, führten sie bis ins 21. Jahrhundert fast durchgehend zu langen vorgelagerten Planungsphasen. Waren diese einmal abgeschlossen, war ein nachträgliches Anpassen kaum möglich (und wenn es erzwungen wurde sehr teuer, wie im Fall des Berliner Flughafens). Das Vorgehen war also eher Anti-Agil.


Mit dem Aufkommen von KI-Anwendungen hat sich das geändert, vor allem aufgrund des genannten parametrischen Designs. Bei ihm werden nur bestimmte Rahmenbedingungen (Parameter) fest vorgegeben, etwa Stabilität und zu tragende Last. Das System wird dann angewiesen, unter Respektierung dieser Vorgaben Lösungsvarianten für einen Design-Entwurf zu erstellen. Das kann dann deutlich schneller erfolgen als durch einen Menschen.


Zu Beginn wurde diese Technik vor allem für Gebäudepläne eingesetzt, bei denen eine Berechnung durch Menschen extrem lange gedauert hätte, die aber auch mit KI noch langwierig waren (z.B. bei den Setas de Sevilla von 2011). Mit dem Fortschritt in der KI-Technologie ist das aber noch einmal deutlich beschleunigt worden - bei aktuellen Vorhaben, wie dem West Bund Convention Center in Shanghai, konnte eine komplette Neuberechnung im wahrsten Sinn des Wortes über Nacht erfolgen.


Damit ist agiles Arbeiten jetzt auch in der frühen Planungs- und Berechnungsphase eines Bauvorhabens möglich. In wenigen Tagen können umsetzbare Entwürfe entworfen, berechnet und vorgestellt werden, und das bei Bedarf mehrfach nacheinander oder parallel zueinander. Und wenn dann beim eigentlichen Bauen noch modulare Konstrktion oder 3D-Druck zum Einsatz kommen, kann das Bauen von Gebäuden ähnlich schnell möglich werden wie das von Software.

Donnerstag, 4. Dezember 2025

Die Doppel-Organisation

Ich bin schon seit Langem der Meinung, dass sich viele Konzepte der Politikwissenschaft auch für die Analyse grosser Organisationen nutzen lassen und habe das auch schon mehrfach getan (z.B. hier, hier, hier und hier).  Ein weiteres, das ich für hilfreich halte ist das der doppelten Organisation, abgeleitet von der 1940 verfassten Studie Der Doppelstaat des deutsch-amerikanischen Juristen und Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel.


Bevor es damit losgeht macht der Hintergrund von Fraenkels Werk aber eine Klarstellung nötig - er benutzte es um die öffentliche Verwaltung des 3. Reiches zu beschreiben. Eine Übertragung auf moderne Organisationen soll explizit niemanden der dort arbeitenden Menschen mit einem Nationalsozialisten gleichstellen. Es geht vielmehr um das Aufzeigen von Wirkungszusammenhängen, die in bestimmten Kontexten auftreten können.


Das von Fraenkel identifizierte Grundmuster besteht daraus, dass es in bestimmten Fällen dazu kommen kann, dass in der staatlichen Verwaltung zwei grundsätzlich verschiedene Organisations-Prinzipien parallel zueinander bestehen und sich zum Teil überlagern: der statische Normenstaat und der dynamische Massnahmenstaat. Sie treten dann gleichzeitig auf, wenn versucht wird, wesentliche Ziele der Verwaltung zu verändern, ohne ihre elementaren Funktionen zu beschädigen.


Der Normenstaat, bzw. seine Angehörigen, haben dabei das Interesse, die Einhaltung der bestehenden Regeln und Standards sicherzustellen, und so dafür zu sorgen, dass das Verwaltungshandeln verlässlich, planbar, überprüfbar und nachvollziehbar ist. Das ist auch grundsätzlich richtig und wichtig, kann aber bei übermässigem Beharren auf dem Ist-Zustand das Risiko mit sich bringen, dass notwendige Veränderungen verwässert, lange verzögert oder schlimmstenfalls sogar unmöglich gemacht werden.


Um diese Erstarrungseffekte zu verhindern ist es notwendig, den Normenstaat von Zeit zu Zeit zu reformieren, und zwar so, dass auf der einen Seite notwendige Veränderungen zulässig und machbar werden, auf der anderen Seite aber so viel Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit übrig bleiben, dass ein Abgleiten in Chaos und Willkür verhindert wird. Dieser Weg ist sinnvoll, aber langwierig, anstrengend und in seinen Ergebnissen von Kompromissen geprägt.


Wenn jetzt auf den Entscheidungspositionen Menschen sitzen, denen dafür die Geduld oder die Kompromissbereitschaft fehlen, ist es verlockend, eine "Abkürzung" zu nehmen: parallel zum Normenstaat wird eine zweite Struktur aufgebaut, die frei von Beschränkungen, Hemmungen und langwierigen Aushandlungsprozessen Veränderungen anstossen und durchsetzen soll. Diese zweite, parallele Struktur ist der Massnahmenstaat.


Wenn der Massnahmenstaat in der Lage ist, den Normenstaat im Konfliktfall ausser Kraft zu setzen, tut er das allerdings nicht flächendeckend sondern nur punktuell. Die anderen Teile werden intakt gelassen, da sie wesentliche Funktionen erfüllen, wie etwa die Instandhaltung von Infrastruktur und das Generieren von Einkommen. Es kommt daher zu dem oben erwähnten Nebeneinander (und z.T, Gegeneinander) der beiden unterschiedlichen Erscheinungsformen.


Die Parallelen zu vielen Grossorganisationen sind offensichtlich. Auch hier kommt es in Notsituationen, nach Managementwechseln oder in sonstigen Sonderzuständen immer wieder dazu, dass diejenigen offiziellen Prozesse, die gerade als bremsend wahrgenommen werden, "kurzgeschlossen" werden, um Entscheidungen schneller durchzusetzen (man spricht dann auch vom "Durchregieren"). Da andere Prozesse unverändert weiterbestehen, entsteht auch hier eine Doppel-Organisation.


Auf den ersten Blick mag das wie ein notwendiges Übel erscheinen, das in Kauf genommen werden kann um Handlungsfähigkeit herzustellen, allerdings führt es zu einem weiteren Problem, dass auch Fraenkel schon im Doppelstaat identifizierte: das Neben- und Gegeneinander von Normen und Massnahmen führt zu Konflikten und Blockaden, zu deren Beseitigung neue Massnahmen ergriffen werden, die zu neuen Blockaden führen, wodurch neue Massnahmen ergriffen werden, etc, etc.


Das in vielen kriselnden Unternehmen anzutreffende Phänomen erstaunlich vieler und erstaunlich wirkungsloser Beschleunigungsprogramme, Steuerungsgremien, Task Forces, und  Delivery Initiativen lässt sich mit dem Vorhandensein einer derartig wuchernden Doppel-Organisation erklären, die durch eine kontinuierliche Verschlimmbesserung von Prozessen ständig ihre eigenen Ziele verfehlt und gleichzeitig unbeabsichtigt ihre Umgebung behindert und verunsichert.


Wenn es nicht dazu kommen soll, ist es der bessere Weg, sich auf das strukturierte aber langwierige, anstrengende und in seinen Ergebnissen von Kompromissen geprägte Reformieren der gegebenen Normen einzulassen. Es wird zwar nur selten zu schnellen Lösungen führen, dafür werden die Ergebnisse konsistenter, stabiler, beständiger und am Ende konfliktfreier sein. Oder mit anderen Worten: statt der Doppel-Organisation kann eine in sich stimmige neue Organisation entstehen.

Montag, 1. Dezember 2025

Kommentierte Links (CXXXIII)

Grafik: Pixabay / Brian Penny - Lizenz
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.

Steve Blank: The Department of War Just Shot the Accountants and Opted for Speed

Als externer Berater oder Mitarbeiter erlebe ich die lähmenden Auswirkungen klassischer Einkaufsprozesse regelmässig anhand der eigenen Beauftragung, die sich dadurch erstaunlich lange verzögern kann (der "Rekord" liegt bei mehreren Jahren). Angesichts derartiger Zustände sind Initiativen wie die von Steve Blank hier vorgestellte nur zu begrüssen. Ich hoffe, dass sie in Deutschland wahrgenommen und als Inspiration genutzt wird.

John Cutler: 'Functional' Feature Factories Explained

Der nächste Teil einer bemerkenserten Serie. 2016: 12 Signs You’re Working in a Feature Factory. 2019: 12 Signs You’re Working in a Feature Factory — 3 Years Later. 2022: Scaled Feature Factories. 2024: How to Learn and Practice Product Management in a Feature Factory. und jetzt das hier: 'Functional' Feature Factories Explained. Man kann gespannt sein, wie viele weitere Teile John Cutler noch verfassen wird - hoffentlich einige. 

Maik Seyfert: Shadow Structures - The Unofficial Systems That Actually Run Your Organization

Informelle Strukturen und Prozesse, organisatorische Hinterbühne, Realstruktur (als Gegenstück zur Formalstruktur) und vieles mehr - das was Maik Seyfert hier als "Schattenstruktur" beschreibt hat viele Namen und Erscheinungsformen. Was er richtigerweise hervorhebt: man kann sie weder verbieten noch erfolgreich bekämpfen. Um eine Organisation erfolgreich führen und verändern zu können, muss man sich auf sie einlassen und sie einbinden.

Kent Beck: Why Does Development Slow?

Das Gefühl kennt jeder, der Software-Entwicklungsorganisationen eine Zeit lang begleitet hat - mit der Zeit geht die Geschwindigkeit in der neue Features erstellt werden mehr und zurück, bis irgendwann selbst kleine Änderungen erstaulich lange dauern. Kent Becks "Exhale, Then Inhale"-Ansatz will das ändern, indem er regelmässig Zeit und Ressourcen für Identifikation und Beseitigung der verlangsamenden Faktoren vorsieht. Etwas, das hochgradig sinnvoll klingt.

Christina Wodtke: The Premortem - Your Product’s Autopsy Before Launch

Der Begriff sagt es eigentlich schon aus, wenn man ein Post Mortem eines Vorhabens durchführt, ist es zu spät um aus dem Gelernten noch Änderungen abzuleiten. Christina Wodtkes Pre Mortem setzt nicht nur zeitlich früher an, sondern zeigt auch vier Faktoren auf, die für Produktentwicklungen tödlich sein können, und die deshalb möglichst früh identifiziert und behandelt werden sollten - Technical Failures, Market Failures, Ethical Failures und Regulatory & Environmental Changes.

Donnerstag, 27. November 2025

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (LIII)

Angefangen hat alles irgendwann mit dem relativ schlichten Comic-Bild 'Dependencies' auf XKCD, das bald zu einem häufig geteilten Meme geworden ist. Das hat dann zahllose Adaptionen und Remixes inspiriert, unter anderem dieses, dieses, dieses, dieses, dieses, dieses und (besonders schön) dieses. Das hier ist meine Version.

Montag, 24. November 2025

Intrapreneur (II)

Wenn man sich auf die Betrachtungsweise einlässt, Organisationsentwicklung als ein Produkt oder einen Service zu betrachten, wird man sie deutlich besser verstehen und beeinflussen können. Das gilt sowohl für die Art wie an ihr gearbeitet wird, als auch für die Wahrnehmung und Behandlung von wichtigen Stakeholdern. Und da sich unter diesen ganz besonders höhere Manager befinden, ist die frage naheliegend - was treibt die eigentlich um?


Eine der wichtigsten Antworten darauf ist: das Geld. Genauer gesagt, die Fähigkeit der Organisation, durch profitables Arbeiten Geld zu erwirtschaften, schliesslich ist es genau das, woran Manager in der Regel von noch höheren Managern, Aktionären, Eigentümern oder Aufsichtsräten gemessen werden. Und mit diesem Gedanken im Hinterkopf ergibt die Ablehnung selbstorganisierter Teams durch viele Manager einen neuen Sinn - dahinter steckt oft die Sorge vor nachlassender Wirtschaftlichkeit.


Dass diese Sorge nicht völlig unbegründet ist, kann man bei vielen in die Selbstorganisation startenden Teams beobachten. Roadmaps und Zeitpläne? Budgetierung und Kostendeckel? Das in Frage stellen von technischem Perfektionismus? All das gilt plötzlich als Teil eines überkommenen Top Down-Managements. Dass durch diese Ablehnung die Profitabilität von Features und Produkten leidet, wird nicht gesehen - und die Verwunderung ist gross, wenn das Management auf einmal interveniert.


Wer es nicht so weit kommen lassen will sollte sich auf ein mittlerweile nicht mehr neues Konzept besinnen, das der Intrapreneurship, womit die Haltung von Angestellten gemeint ist, nicht nur wirtschaftliches Denken und Handeln anzustreben, sondern auch bereit zu sein, sich das dazu notwendige Wissen aus Marketing, Vertrieb, Rechnungswesen, Kundenservice und sonstigen relevanten Bereichen anzueignen und regelmässig aufzufrischen.


Natürlich wird das nicht bei jedem Team Begeisterung auslösen, die oben erwähnte Ablehnung vieler Management-Praktiken führt häufig zur fehlenden Bereitschaft, sich mit diesen manchmal anstrengenden Themen überhaupt auseinanderzusetzen. Das ist auch nachvollziehbar, blendet aber aus, dass diese Auseinandersetzung ein Preis ist, der für die Selbstorganisation (bzw. deren Duldung oder Förderung durch das Management) gezahlt werden muss.


Erst wenn die Führungsebenen die Zuversicht haben, dass auch ohne ihr Zutun Wirtschaftlichkeit und Profitabilität nicht vernachlässigt werden, werden sie die Bereitschaft entwickeln, Entscheidungs-Kompetenzen in nennenswertem Ausmass nach unten zu delegieren. Und noch  weitergedacht: wenn man ihnen glaubhaft machen kann, dass Selbstorganisation zu mehr wirtschaftlichem Denken führen wird als Steuerung und Anleitung, werden sie sogar aktiv nach ihr verlangen.


Und um auch die Manager selbst in die Pflicht zu nehmen: dafür zu sorgen, dass ihre Mitarbeiter wirtschaftlich denken können ist eine ihrer wesentlichen Aufgaben und sollte in Ausbildungen, Weiterbildungen und Personalentwicklung verankert werden. Es handelt sich dabei schliesslich um die Mehrung von Humankapital, die eine zentrale Aufgabe jeder Führungskraft ist - ein weiterer Aspekt des Denkens als Intrapreneur, nur eine Ebene weiter oben.

Freitag, 21. November 2025

You build it, you (can't) run it

Ich glaube ja, dass man die Entstehungsgeschichte von Ideen und Praktiken kennen sollte, wenn man wissen will, wie sie gedacht sind, welche Probleme sie lösen sollen und wofür sie nicht gedacht sind. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr angetan von diesen Ausführungen von Hana Amiri, die sehr schön darstellt wo DevOps herkommt, wie es sich entwickelt hat, was es erleichtert hat und zu welchen neuen Problemen es geführt hat.



Der Gedanke hinter dem provokanten Titel, der das Paradigma "You build it, you run it" negiert, ist, dass diese doppelte Verantwortung viele Teams übermässig belastet und daher nicht skaliert. Der sich daraus ergebende Schluss, dass Platform Engineering die beste Form von DevOps at Scale ist, dürfte kontroverse Debatten auslösen - genau wie gute Vorträge es sollen.