Freitag, 17. Oktober 2025
Immerschlimmeritis und Verbesserungsoptimismus
Es gibt Begriffe, die komplexe Sachverhalte prägnant auf den Punkt bringen, und einer davon ist gerade neu erfunden worden: die Immerschlimmeritis. Gemeint ist damit der Glaube, dass sich die Verhältnisse denen man ausgesetzt ist permanent verschlechtern - auch wenn in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall ist. Geprägt hat ihn der Ökonom Georg Cremer, VWL-Professor an der Universität Freiburg, in einem Zeit-Artikel über Falschwahrnehmungen der Vermögensentwicklung in Deutschland.
Die spannende Frage ist jetzt, wie es zu einer derartigen, nicht der Realität entsprechenden Immerschlimmeritis kommen kann, und tatsächlich gibt es darauf sogar eine wissenschaftlich fundierte Antwort. Der berliner Soziologie-Professor Stefan Liebig (auf dessen Forschung Cremer seine Analyse aufbaut) hat das Phänomen untersucht und kommt zu der Erklärung, dass sich Einstellungen nur träge an veränderte Trends anpassen. Aber was heisst das?
Wenn sich Verhältnisse über eine längere Zeit in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, gehen die betroffenen Menschen unbewusst davon aus, dass das mit einer gewissen Zwangsläufigkeit geschieht und aufgrunddessen auch so weitergehen muss. Wenn es also über längere Zeit zu Stagnationen oder Verschlechterungen gekommen ist, werden neu auftretende Verbesserungen nicht als solche erkannt oder lediglich für temporäre Abweichungen von einer dauerhaften Tendenz gehalten.
Wer schon einmal Veränderungsmanagement in grösseren Organisationen betrieben hat, wird jetzt vermutlich ein Deja-vu haben - selbst spürbare Verbesserungen werden in derartigen Kontexten oft nicht als solche anerkannt oder es wird ihnen eine dauerhafte Wirksamkeit abgesprochen. Diese Grundhaltung lässt sich in vielen Fällen anhand von Liebigs Modell mit der unbewussten Fortschreibung vorhergegangener langfristiger Stagnations- und Verschlechterungs-Erfahrungen erklären.
Diese Erklärung ist zunächst einmal frustrierend, bedeutet sie doch, dass Erfolge und Verbesserungen trotz spürbarer Effekte als vergebliche Mühen und sinnlose Aufwände betrachtet werden können, was im schlimmsten Fall zur Folge haben kann, dass sogar erfolgreiche Veränderungsvorhaben wegen einer irrtümlich wahrgenommenen Wirkungslosigkeit beendet oder sogar rückgängig gemacht werden können. Allerdings gibt es auch eine positive Deutung.
Wenn es gelingt, über einen längeren Zeitraum kontinuierliche Verbesserungen aufzuzeigen, dann kann die verzögerte Anpassung von Einstellungen an veränderte Trends zu einem verstärkenden Faktor von Verbesserungsvorhaben werden - die wiederholten derartigen Erfahrungen führen dann zu einem strukturellen Verbesserungsoptimismus, der spiegelbildlich zur Immerschlimmeritis dafür sorgt, dass die Beteiligten davon ausgehen, dass sich die Lage im Zweifel immer weiter verbessern wird.
Für das Veränderungsmanagement in grösseren Organisationen bedeutet das auf den Punkt gebracht, dass es sich lohnt, einen langen Atem zu haben und sich von anfänglicher fehlender Anerkennung nicht entmutigen zu lassen. Denn wenn kontinuierliche Verbesserungen gelingen, dann kann irgendwann die Zustimmung ähnlich stark werden wie zu Beginn die Ablehnung. Und das ist doch ein Ziel auf das es sich lohnt hinzuarbeiten.
Dienstag, 14. Oktober 2025
Flooding the Zone (II)
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Bild: Wikimedia Commons / Katsushika Hokusai - Public Domain |
Noch einmal einige Gedanken zum Flooding the Zone, also zu einem derartigen Überladen einer Diskussion mit Themen, dass es nicht mehr möglich ist, sich auf eines davon zu konzentrieren um es auszudiskutieren oder zu einer Massnahme oder Lösung zu kommen. In sehr vielen Fällen ist dieses Phänomen ein Ausdruck einer destuktiven Einstellung, es gibt aber auch Fälle, in denen es stattfindet ohne dass eine negative Absicht dahintersteht.
Eine häufige Ursache dafür ist, dass ein Gesprächsteilnehmer seit langem keine Möglichkeit mehr gehabt hat, seine Einwände oder Bedenken vorzubringen (weil das von anderen unterbunden wurde, weil er nicht in die dafür geeigneten Termine eingeladen wurde, weil er erst seine Introvertiertheit überwinden musste - es kann viele Gründe dafür geben). Ihn dann darum zu bitten kann einen Dammbruch zur Folge haben, der erstmal alles an die Oberfläche bringt was sich aufgestaut hat.
Eine anderer Grund kann sein, dass der Gesprächsteilnehmer die Erfahrung gemacht hat, dass er im Durchschnitt nur ein- oder zweimal pro Meeting zu Wort kommt, z.B. weil die strukturell mit Themen überladen sind oder mit zu vielen Teilnehmern stattfinden. In derartigen Fällen hat er einen starken Anreiz, sofort alles vorzubringen, was irgendwann im Gespräch wichtig werden könnte, da er nicht sicher sein kann, ein zweites mal die Gelegenheit dazu zu haben.
Eine dritte mögliche Ursache ist, dass durch solche Momente Probleme der Unternehmenskultur sichtbar werden. Wenn z.B. dem ersten, der ein konfliktlastiges Thema anspricht, sein Standpunkt am meisten geglaubt wird, dann kann das einen Wettlauf zum Mikrofon mit anschliessendem thematischem Rundumschlag zur Folge haben. Das ist im übrigen auch dann das Ergebnis, wenn dieses Kulturproblem gar nicht existiert, es aber irrigerweise unterstellt wird.
Abhängig davon, welche dieser Konstellationen gegeben ist (was sich allerdings nicht immer einfach herausfinden lässt) sind verschiedene Herangehensweisen sinnvoll, um das Flooding the Zone in den Griff zu bekommen. Sinnvoll ist in jedem Fall eine vorher gemeinsam Agenda, bei der den einzelnen Themen realistische Zeiträume zugeordnet sind (womit auch klar ist, worüber nicht geredet wird). Mit Berufung darauf lassen sich zeitlich oder inhaltlich ausufernde Beiträge einfacher abmoderieren.
Ebenfalls hilfreich ist es, wegmoderierte Themen öffentlich sichtbar zu "parken", z.B. auf einer Wand mit entsprechend beschrifteten Post Its oder Moderationskarten. Dadurch wird denjenigen, die sie eingebracht haben, die Sorge genommen, dass sie unter den Tisch fallen könnten. Ggf. kann am Ende des Termins sogar schon festgelegt werden, wann diese Themen stattdessen behandelt werden, auch in welchem Umfang und mit welcher Reihenfolge.
Das meiste Fingerspitzengefühl ist nötig, wenn das Flooding the Zone auf eine problematische Unternehmenskultur zurückgeht. Ein einigermassen erfolgsversprechendes Mittel in derartigen Fällen ist es, die nicht in der Agenda vorgesehenen Debatten konsequent aus der Ergebnis-Dokumentation herauszuhalten, wodurch ein derartiges Verhalten seinen Mehrwert verliert. Um so wichtiger ist in solchen Fällen der Verweis auf einen späteren Zeitpunkt für die Besprechung.
Erfahrungsgemäss kann diese Art, mit zeitlich und inhaltlich ausufernden Wortbeiträgen umzugehen, nach und nach zu einer Verbesserung führen, selbst wenn es zu Beginn eine Zeit lang zu Unzufriedenheit und Widerspruch kommt. Man muss sich dabei aber bewusst machen, dass ein derartiges Verhalten in der Regel über eine längere Zeit entstanden ist, und es dadurch auch entsprechend dauern kann, bis es wieder verschwunden ist.
Freitag, 10. Oktober 2025
Montag, 6. Oktober 2025
Tech Debts VS More Features
Nachdem ich dieses Video in den letzten Monaten immer wieder zugeschickt bekommen habe, ist es höchste Zeit, es auch hier einzubinden. Keine Ahnung ob KI-generiert oder nicht, den Urhebern ist damit ein kleines Kunstwerk gelungen.
Und falls der Inhalt irgendjemandem zu weit hergeholt vorkommen sollte - es lohnt sich, das Video jemandem zu zeigen, der in einer grossen IT-Organisation arbeitet. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird er sagen, dass ihm das Ganze sehr bekannt vorkommt.
Freitag, 3. Oktober 2025
Prescott's Pickle Principle
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Bild: CCnull / Tim Reckmann - CC BY 2.0 |
Nachdem es hier schon länger keine Besprechung eines "Management-Gesetzes" mehr gab, ist hier ein besonders schönes: Prescott's Pickle Principle, geprägt 1985 vom Informatiker und Unternehmensberater Gerald M. Weinberg in seinem Buch The Secrets of Consulting, in dem er zahreiche derartiger halb ernstgemeinter Gesetzmässigkeiten gesammelt und z.T. mit selbst erfundenen Ursprungsgeschichten versehen hat. Ein derartiges, nach dem fiktiven Lebensmittelhändler Prescott benanntes Gesetz lautet:
Cucumbers get more pickled than brine gets cucumbered.Gerald M. Weinberg: The Secrets of Consulting; S. 72
Die zugrundeliegende Idee ist gewissermassen aus der Mengenlehre abgeleitet: die Flüssigkeit in einer Gurke (Cucumber) ist so viel weniger als die im umgebenden Essigglas, dass im Endprodukt der Essiggurke vor allem der Geschmack von Essig (Brine) übrigbleibt, und nur wenig Gurkengeschmack. Dieses Phänomen übertrug Weinberg als ein plastisches Bild auf die Tätigkeit, mit der er beruflich grossteils beschäftigt war - das Change Management.
Übertragen auf Veränderungsprozesse beschrieb er damit das häufige Phänomen, dass Personen, die in eine Organisation geholt werden um neue Impulse einzubringen, sich nach und nach durch Kompromisse, Sachzwänge, Unternehmenspolitik und andere Faktoren an den ursprünglich vorherrschenden Zustand anpassen, bis sie irgendwann zu einem Teil von ihm geworden sind und aufgrunddessen keine Veränderungsimpulse mehr setzen können. Sachlicher ausgedrückt:
A small system that tries to change a big system through long and continued contact is more likely to be changed itselfGerald M. Weinberg: The Secrets of Consulting; S. 73
Diese Betrachtungsweise mag zunächst pessimistisch oder sogar defätistisch wirken, da man sie so verstehen kann, dass am Ende alle Veränderungsvorhaben zum Scheitern verurteilt sind. Das allerdings würde weit an Weinbergs Interntion vorbeigehen, der genau die gegenteilige Aussage treffen wollte: Veränderungen sind möglich, allerdings nur dann, wenn man sich der Mechanismen von Prescott's Pickle Principle bewusst ist und ihnen entgegenwirkt.
Die Analogie der Gurke im Essigwasser wurde in The Secrets of Consulting nämlich noch weiter getrieben - genau wie die harte Schale einer Gurke eine Zeit lang das Eindringen des Essigs verhindert, kann ein Change Agent (oder wie auch immer das auf deutsch heisst) sich eine Zeit lang dagegen wehren, von dem ihn umgebenden sozialen System assimiliert zu werden. In dieser Zeit kann er Wirkung entfalten, er sollte aber in der Lage sein zu erkennen, ab wann das nicht mehr der Fall ist und dann wieder gehen.
Wie alles an derartigen "Gesetzmässigkeiten" ist auch dieser Schluss mit Vorsicht zu betrachten und sollte vor allem im Kontext von Weinbergs Einsätzen in grossen, veränderungs-aversen Organisationen gesehen werden. In diesem Rahmen hat er aber eine gewisse Gültigkeit und erklärt damit auch, warum viele Konzerne, Behörden und sonstige Grossorganisationen in einem Zustand der "Dauerberatung" befinden, und ständig neue Unternehmensberater beauftragen, ohne dass das irgendwann ein Ende findet.
Die Pointe in Weinbergs Buch besteht übrigens daraus, dass der Lebensmittelhändler Prescott den Verkauf von Essiggurken so stark verinnerlicht hatte, dass er in seinem nächsten Geschäft, einem italienischen Restaurant, die Pizza damit belegte. Damit entspricht er dem Antipattern eines Change Agents, der nicht nur zum Teil des ursprünglichen Problems wurde, sondern das auch noch als scheinbare Lösung weiterverbreitete. Eine Mahnung, wie man im schlimmsten Fall selbst enden könnte.
Dienstag, 30. September 2025
Kommentierte Links (CXXXI)
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Grafik: Pixabay / Brian Penny - Lizenz |
Gregor Hohpe: Transformation Gremlins
Um einem Missverständnis vorzubeugen: die "Transformation Gremlins", über die Gregor Hohpe hier schreibt, sind nicht etwa Verwandte der Konzern-Trolle, sondern beziehen sich auf das in den 70ern gebaute Auto AMC Gremlin, aus dem Hohpe eine ganze Produkt(anti)kategorie ableitet - die der Produkte, die entstehen, wenn man versucht ein bestehendes Produkt halbherzig und mit möglichst wenig Aufwand an völlig andere Kundenbedürfnisse anzupassen.Tim Ottinger: Why is working faster not working?
Ein neuer Take auf ein klassisches Thema: das der Arbeitsfluss-Optimierung, bzw. der negativen Folgen die entstehen wenn man nicht etwa die Engpässe beseitigt, sondern an anderen Stellen des Systems mehr Arbeit anordnet. Tim Ottingers wenig überraschende Erkenntnis: geschieht das vor einem Engpass entsteht Stau, geschieht das nach einem Engpass entsteht Leerlauf. Eigentlich Common Sense, aber in grossen Organisationen erstaunlich wenig verbreitet.John Cutler: Vertical vs. Horizontal Org Coupling
Was bekommt man, wenn man das Ausmass der Steuerung eines Teams durch das Management mit den Abhängigkeiten zu anderen Teams ins Verhältnis setzt? Im Fall von Jahn Cutler eine Matrix aus vier Feldern, die jeweils eine bestimmte, häufig auftretende Ausprägung von Produkt- oder Feature-Teams beschreiben. Wichtig dabei ist, dass keines der Felder besser oder schlechter ist als das andere, es sind vielmehr Typen zwischen denen viele Teams mit der Zeit hin- und herwechseln können.Kent Beck: Programming Deflation
Kent Beck gehört zu den wenigen Menschen, deren Artikel über den Einfluss von künstlicher Intelligenz auf den Beruf des Software-Entwicklers ich freiwillig lese. Ganz unabhängig von den sonst vorherrschenden Jubel- oder Untergangs-Szenarien beschreibt er einige der gerade stattfindenden Dynamiken - was gerade leichter verfügbar wird, was knapper wird und wie Entwickler sich angesichts dieser Entwicklungen positionieren sollten.Jamil Zaki: Every Team Needs a Super Facilitator
Auf den ersten Blick ein typisch amerikanischer Management-Magazin-Artikel, voller Superlative und Heldengeschichten. Auf den zweiten Blick dagegen ein differenziert geschriebener Artikel über ein interessantes Phänomen. Unter Verweis auf die Arbeit verschiedener Forscher identifiziert Jamil Zaki die (inoffizielle) Rolle des "Super Facilitators" der sein Team dadurch stärkt, dass er so mit den anderen Mitgliedern interagiert, dass diese ihre jeweilen Stärken optimal einbringen können.Donnerstag, 25. September 2025
BIC Limit
Zu den wichtigsten Kompetenzen eines Agile Coach, Scrum Master, Agile Consultant oder ähnlicher Rollen gehört es, die Idee agilen Arbeitens so zu erklären, dass sie auch von Menschen für gut befunden wird, die sich wenig mit dem Thema beschäftigt haben. Ein Patentrezept gibt es dafür natürlich nicht, aber einen Ansatz mit dem ich immer wieder sehr gute Erfahrungen gemacht habe: das Buzzwords in Conversation Limit, kurz BIC Limit.
Zur Erklärung: selbst für die Management-Sprache sind die agilen Frameworks mit sehr vielen so genannten Buzzwords überladen, also ungewöhnlich klingenden Begriffen oder Phrasen, die Sachverhalte kurz und prägnant wiedergeben sowie bei der Zielgruppe Interesse und Wiedererkennen hervorrufen sollen. Beispiele dafür sind Agil(e) und Framework selbst, aber auch leichtgewichtig, crossfunktional, iterativ-incrementell und viele weitere mehr.
Das Problem von Buzzwords: um ihren prägnanten Charakter zu behalten, müssen sie zwangsläufig auf Details, Genauigkeit und Kontext und Klarheit verzichten. Das macht auch Sinn, kommt aber mit einem Preis - um sie im Sinn der ursprünglichen Intention voll zu verstehen, benötigt man entsprechendes Vorwissen. Hat man das nicht, klingen Buzzwords schnell wie leere Worthülsen, was eine im Umfeld agiler Frameworks durchaus häufige Aussenwahrnehmung ist.
Gleichzeitig können Buzzwords durch ihre minimalistische Natur sehr schnell zum Gegenstand von Interpretationen, Missverständnissen und Umdeutungen werden, ohne dass das zwangsläufig auffällt. Servant Leadership zum Beispiel kann auf derartig viele verschiedene Weisen verstanden werden, dass selbst innerhalb einzelner Unternehmen die Bedeutungen und Anwendungen so weit auseinanderlaufen, dass kaum noch Gemeinsamkeiten bestehen.
Beides, sowohl die (ohne Vorwissen scheinbar gegebene) Inhaltslosigkeit als auch die mitunter willkürlich und erratisch wirkenden Deutungen und Missverständnisse, tragen dazu bei, dass Buzzwords von vielen Menschen misstrauisch betrachtet oder sogar rundheraus abgelehnt werden. Und damit kommen wir zu einem Problem bei der Vermittlung agiler Arbeitsweisen - die Benutzung zu vieler Buzzwords kann hier eher schaden als helfen.
Das BIC Limit ist ein Weg um derartige negative Effekte zu begrenzen. Wenige Buzzwords, dafür aber auch weniger Misstrauen und weniger Ablehnung. Welche Begrenzungsmenge sinnvoll ist kann jeder für sich entscheiden, ich selber halte aber ein BIIC Limit von Eins für sinnvoll. Das heisst: Agil, Framework, leichtgewichtig, crossfunktional, iterativ-incrementell und ähnliche Begriffe benutze ich nach Möglichkeit in einem beruflichen Gespräch nur einmal.
Natürlich kann es dabei vorkommen, dass ein Konzept mehr als einmal thematisiert werden muss, allerdings ist das ab dem zweiten mal auch ohne Buzzword möglich. Agil bedeutet für mich zum Beispiel, in kurzen Zyklen Reaktions- und Lieferfähig zu sein. Das lässt sich auch genau so sagen, und es ist für die meisten Menschen auch sehr gut nachvollziehbar, was damit gemeint ist, und was nicht. Mein Erfahrungswert: Gespräche werden so besser.
Zuletzt noch eine kurze Meta-Betrachtung - ja, mir ist bewusst, dass ein BIC Limit ebenfalls ein Buzzword ist. Ironie der Geschichte.
Montag, 22. September 2025
Der 'agile Jobmarkt' als Teil des IT-Jobmarktes
Wer im Augenblick auf agilen Meetups oder Konferenzen unterwegs ist, findet die dort versammelten Scrum Master, Agile Coaches und Agile Consultants oft in einer pessimistischen Stimmung vor, wie man beispielhaft an der oben zu sehenden Session der letzten Agile Cologne sehen kann. Diese Stimmung ist erst einmal so wie sie ist, wie immer lohnt es sich aber auch hier, den Sachverhalt im grossen Kontext zu betrachten, da sich dann einiges relativiert.
Um mit der wichtigsten Differenzierung zu beginnen - wenn agile Methodiker darüber sprechen, dass "Agile tot ist", meinen sie in der Regel nicht, dass schnelle Reaktions- und Lieferfähigkeit in der Software-Industrie nicht mehr wichtig sind (in Krisen ist sogar das Gegenteil der Fall). Was sie meistens tatsächlich meinen ist, dass der "agile Jobmarkt", also der für Scrum Master, Agile Coaches/Consultants und ähnliche Rollen, zu verschwinden droht.1 Und selbst das ist so nicht ganz richtig.
Wenn man das (durchaus reale) Schrumpfen des agilen Jobmarkts betrachtet, sollte man sich zunächst bewusst machen, dass er trotz des Übergreifens agiler Vorgehensweisen in andere Bereiche im Wesentlichen noch immer ein Teil des IT-Jobmarktes ist, und der ist bedingt durch die Rezession als Ganzer in der Krise. Es ist für die Betroffenen zwar nur ein schwacher Trost, aber (agilen und nicht-agilen) Entwicklern, Testern, Architekten und IT-Managern geht es gerade auch nicht besser.
Aus dieser vergleichbaren Situation anderer IT-Berufe ergeben sich aber besondere Folgen für die agilen Methodiker. Eine davon, die fast immer übersehen wird: in Zeiten eines schwierigen Arbeitsmarktes sind die Entwicklungsteams tendenziell weniger rebellisch als zu Fachkräftemangel-Zeiten, in dem sie schnell andere Jobs hätten. Und wenn Widerstände gegen kurze Lieferzyklen, hohe Transparenz und häufige Kommunikation zurückgehen, dann bedeutet das auch, dass es weniger Bedarf für agile Coaching gibt.
Ebenfalls zu beachten ist, dass während wirtschaftlicher Krisen sparsam mit Budgets umgegangen wird. In Folge dessen werden weniger Projekte neu gestartet und weniger neue Mitarbeiter eingestellt, was wiederum erneute Auswirkungen auf den Bedarf nach agilen Methodikern hat - es gibt weniger Trainings, Schulungen und Teambuilding-Workshops die gehalten werden müssen, und es gibt weniger Teams die durch ihe Storming-Phase begleitet werden müssen.
Zuletzt gibt es in vielen Firmen die Tendenz, (vorrübergehend) Dysfunktionen in den Entwicklungsteams in Kauf zu nehmen, wenn sich dadurch Geld einsparen lässt. Eine typische Ausprägung dieses Phänomens ist es, Rollen ohne unmittelbare eigene Wertschöpfung zu streichen oder mehreren Teams gleichzeitig zuzuordnen. Das betrifft häufig Scrum Master und Agile Coaches/Consultants, aber z.B. auch UX Designer, Product Owner, Architekten und weitere "Meta-Rollen".
Um die zentrale Botschaft zu wiederholen: für viele agile Methodiker mag es sich zur Zeit anfühlen, als würde die "Nachfrage nach agilem Arbeiten" zurückgehen. Das ist aber eine Verwechselung, was zurückgeht ist lediglich die Anzahl der Scrum Master-, Agile Coach- und Agile Consultant-Jobs. Und selbst die verschwinden auch nicht wesentlich stärker als der Branchenschnitt, bzw. ähnlich abstrakte Stabs- Koordinations- und Management-Jobs.
Was im Umkehrschluss angenommen werden kann: sobald die Wirtschaft wieder anzieht, neue Vorhaben gestartet und neue Mitarbeiter eingestellt werden, wird das auch zu einer Verbesserung auf dem "agilen Jobmarkt" führen, sei es weil der Fachkräftemangel wieder zu rebellischeren Teams führt, weil es wieder mehr zu begleitende Storming-Phasen gibt oder weil wieder eigesehen wird, dass es Sinn macht, jemanden zu haben, der regelmässig aus dem Hamsterrad heraustreten kann.